Reportage: Schlesische Abenteuer, Tag 2

Als Wehrwolf auf dem Bober: Die Bober-Taufe

 

 

 

 

Das Wetter am Morgen gibt sich wechselhaft. Dazu gibt es Brötchen aus dem Dorfladen in der Nähe. Sonst macht sich das benachbarte Dorf am Bober kaum weiter bemerkbar.Nur ein knatternder Traktor und vereinzelte auf der nahen Straße vorbeifahrende Autos erinnern an die Menschen in der Nachbarschaft. Die Brötchen gefallen uns gut. Mit ihrem einfachen würzigen Geschmack und ihrer rustikalen Beschaffenheit geben sie uns die nötige Energie für den ersten Tag auf dem Wasser.

Morgengebete

Der Wind hat unsere Sachen getrocknet und während wir unser Chaos ordnen und in die Boote sortieren, kommt für Momente die Sonne hinter den Wolken hervor und wärmt. Die Strömung ist immer noch schnell. Davon können wir uns bereits beim Zähneputzen überzeugen, als das Wasser reißend zu unseren Füßen vorbeischießt. Ich schütte den letzten Schluck meines Morgentees ins Wasser und murmele dabei gebetsartig von meinen Hoffnungen für diesen Tag.

Improvisierte Manöverübungen

Als erste taktische Handlung des Tages üben wir ein improvisiertes Notfallmanöver zum Anlanden ein: Dabei sollte das Boot mit voller Kraft bugwärts auf das Ufer gesetzt werden, woraufhin der Vordermann mit der Leine zwischen seinen Zähnen irgendwie festen Boden erreichen musste, um das Boot zu sichern. Unser Unbehagen können wir mit dieser Übung nicht vertreiben. Wir vertrauen darauf, dass allein das Unterwegssein das ändern könne und schieben unsere Boote in den Fluss, die sich wegen ihrer Ladung tief ins Wasser legen. Sofort greift die Strömung nach ihnen und zieht an den Rümpfen. Das Ablegen ist dadurch gar nicht schwer.

Dampfwalzen

Nun schwimmen wir tatsächlich auf dem Wasser. Die erste Hemmschwelle ist damit überwunden. Für einen Abschied bleibt uns keine Zeit. Der Fluss nimmt uns sogleich in die Pflicht, indem er uns unaufhaltsam in die enge Flussbiegung drückt. Doch die Boote erweisen sich als umgänglich und wir finden uns sofort in eine flüssige Paddeltechnik ein. Hinter der Biegung ist der Flusslauf für einen Moment gerade und übersichtlich, so dass ich mit Rückwärtspaddeln etwas Geschwindigkeit aus der Strömung nehmen und einen kurzen Blick auf meine Begleiter erhaschen kann. Was ich sehe, sind meine gutgelaunten Gefährten in einer Art Dampfwalze sitzend, mit der sie auf dem aufgewühlten Wasser mit enormer Geschwindigkeit flussabwärts rasen. Damit ist es zur Gewissheit geworden: René und Mark würden heute nur schwer zu bremsen sein.

Befahrungsstrategien

Der lange, schwere Zweier ist recht träge. Damit haben sie nur wenige Möglichkeiten und können das Gefährt nur unzureichend navigieren. Das heißt aber nicht, dass wir nicht vorankommen. Im Gegenteil, obwohl wir uns erst seit wenigen Augenblicken auf dem Wasser befinden, ist die Brücke von Dabrowa bereits nicht mehr zu sehen. Mit der kurzen Geraden haben wir eine Gnadenfrist bis zur nächsten Flussbiegung bekommen. Die nutzen wir für eine kurze Wendemanöverübung. Wir wollen damit unsere navigatorischen Möglichkeiten ausloten, die sich jedoch als stark eingeschränkt erweisen. So bleibt uns lediglich die Hoffnung auf unseren Anlegetrick, den wir heute morgen noch kurzfristig eingeübt hatten. Doch es gibt noch eine weitere Befahrungsstrategie, die wir uns beim Frühstück ausgetüftelt hatten. Sie würde in Kürze ihr Praxistauglichkeit unter Beweis stellen können, denn vor uns liegt die nächste Kurve, die in wenigen Paddelschlägen erreicht sein würde. Was dahinter kommen würde, sehen wir jetzt noch nicht. Wir verständigen uns kurz über die besprochene Vorgehensweise und dann schaufele ich mich im Einer voran, um Abstand zwischen dem Zweier und mir zu schaffen.

Auf der Vorhut

Meine ganze Aufmerksamkeit gilt von nun an dem Bild der Strömung und der Geräuschkulisse voraus. Wo verbirgt sich etwas Bedrohliches? Das gehört zur Strategie: Der wendige Einer sollte die Vorhut bilden, um den Fluss genügend einsehen und den Zweier gegebenenfalls vorwarnen zu können, damit dieser noch genügend Zeit zum Reagieren haben würde. Im Einer ist für mich ungleich mehr möglich als für Mark und René, die in ihrem Dickschiff mit beachtlichen hundert Metern „Bremsweg“ rechnen. Deswegen bemühe ich mich darum, bei jedem Rauschen und jedem Engpass den Dampfer per Handzeichen auf Abstand zu halten, um mich vorerst allein voranzutasten. Mark und René schaffen es dann immer irgendwie, mir auf meiner Linie zu folgen.

In dieser Anordnung sind wir vorerst ohne größere Schwierigkeiten unterwegs, bis wir eine ausgespülte Flussbiegung erreichen. Sie bildet eine weitläufige Wulst, an deren unterem, sich trichterförmig zusammenziehendem Ende mehrere umgestürzte Bäume den Flusslauf blockieren. Ich gebe das vereinbarte Stop-Handzeichen und bin gespannt darauf, wie Mark und René diese für sie neue Aufgabe meistern würden. Es gelingt ihnen gut, und ebenso wie ich, setzen sie das Boot seitwärts auf den groben Schotter in der äußeren Kurvenseite.

Fallobst

Wir klettern eine steile Uferwand hinauf, von der auf ganzer Länge braune Lehmklumpen heruntergebrochen sind, die wie überreifes Fallobst auf der blanken Kiesböschung liegen. Es sind die Reste einer dünnen Erdschicht, die das Hochwasser der letzten Wochen unterhöhlt hat. Diese zwanzig Zentimeter Erde wirken so filigran und verleihen doch dem gesamten Tal seine Fruchtbarkeit, dass es uns erstaunt. Darauf liegen die Äcker eines naheliegenden Dorfes, deren Ackerfurchen bis ans Ufer reichen, wo sie abrupt abreißen und im Leeren enden. Dort, wo vor kurzem noch Kartoffeln lagen, drückt sich jetzt das strömend glucksende Wasser am Hang entlang.

Serienauftakt

Die Hindernisse in der Flusskurve sind leicht zu umtreideln. Wir machen mit unseren Booten flussabwärts an einer kleinen Kiesbank fest. Daraufhin steigen René und ich über die Kartoffeln, um das nachfolgende Fahrwasser zu besichtigen. Da tut Mark zum ersten Mal etwas, was er in dieser Woche noch öfter tun würde. Zuerst hören wir nur seinen kurzen lauten Schrei. Eines der Boote ist abgeschwommen, so dass er nicht umhin kommt, ins kalte Wasser zu springen und es zurückzuholen. Nachdem wir in einem schnellen Galopp über die Ackerfurchen zurückgerannt sind, sehen wir ihn schon wieder mit beiden Booten am Ufer sitzen – triefend nass. Das, was quasi seine Bober-Taufe war, haben wir damit leider verpasst; doch war dieses nur der Auftakt für eine ganze Serie weiterer Bäder, mit denen sich Mark im Verlaufe dieser Woche nicht ganz freiwillig einen unsterblichen Namen machen sollte. Manchmal kommt der Ruhm eben ungefragt.

Nicht angstfrei, aber angekommen

Die Weiterfahrt bleibt vorerst ohne weitere Überraschungen. Hin und wieder passiert der Fluss einen Höhenabfall, wo er stark beschleunigt und sich zwischen seinen Ufern wie ein ungezäumtes Tier windet. Dann bäumt er sich trotzig auf, stößt uns von einem Ufer zum anderen und versucht uns abzuschütteln. Doch vergeblich, wir sitzen fest in unseren Booten und werden darüber immer optimistischer. Wir sind froh über das flache Land um uns herum, weshalb das Höhengefälle gemäßigt bleibt. Das Tal ist stets weiträumig und die Berge halten fortwährend genügend Abstand zum Fluss. Es ist ein sonniger Tag geworden. Es versetzt uns in eine gute Stimmung, nun unter der Autobahnbrücke durchzufahren, über die wir gestern noch im Auto angereist waren. Hier draußen stellt sie symbolisch unsere einzige Verbindung in die Heimat dar. Als sie kurz darauf hinter uns liegt, bemerken wir, dass wir mittlerweile in diesem Land angekommen sind und von nun an auf dem Bober unterwegs sein würden. Wir sind zwar noch nicht angstfrei, aber wir haben uns in unsere neue Aufgabe eingelebt.

Kanuten haben Hunger

Am frühen Nachmittag ergibt sich der Fluss einer geheimnisvollen Kraft und wird breit und ruhig. Wir entspannen unsere Arme und atmen auf. Auf dem Wasser vor uns spiegeln sich heranziehende Wolkenberge in zartem Blau. Bald erkennen wir hinter einer langgezogenen Flussbiegung die modernen Bauten eines mächtigen Wehrs am Horizont. Es teilt den Fluss in mehrere Läufe. Wir wählen das größte Gefälle und schieben unsere Boote zwischen gelben Geländern über einen schmalen Laufsteg zum linken Ufer und halten nach einer weiteren halben Stunde Gepäcktransport im Schatten des Giganten ein Mittagsmahl ab. Für ausgehungerte Kanuten gibt es angebranntes Dosenfutter vom Gaskocher. Wir sind alle drei hungrig.

Gegen die Stauklappen über uns klatschen bedrohlich die Wellen, die von einem böigen Septemberwind herangeschoben werden. Das Wasser rieselt kleckerweise vom Wehrtor herunter und versickert vor unseren Füßen im Kiesbett. Mehr ist hier vom Bober nicht übrig geblieben. Alles andere saugen die Turbinen eines Energiekonzerns abseits des Hauptlaufs auf. Das bedeutet schlechte Zeiten für Wanderfische und Kanuten.

Zeichen

Aber auch sonst hatte der Mensch hier seine Zeichen gesetzt. Um uns herum liegt eine von verlassenen Tagebaugruben durchlöcherte Landschaft, die zu einer menschenleeren Einöde mutiert ist, in der von der dünnen Schicht fruchtbarer Muttererde nichts mehr zu sehen ist. Nur ein paar Bäume und das halbtrockene Flussbett vor unseren Füßen sind dem Land als letzter Schmuck geblieben.

Geisterwelt

Satt und träge marschieren wir, die Boote ziehend, durch die Geisterwelt eines halbtrockenen Flussbetts. Nach einigen hundert Metern erreichen wir den Wasserlauf des Kraftwerks. Beim Anblick des vielen Wassers kommen wir uns wie Verirrte auf einem kleinen, toten Nebenarm des Bobers vor, die endlich den richtigen Flusslauf wiedergefunden haben. Doch eigentlich verhält es sich umgekehrt, denn der Bober bekommt hier sein Wasser zurück, das die Turbinen über einen einmündenden Seitenkanal ausspucken. Das Flussbett ist wieder randvoll und wir schieben unsere Boote ins tiefe Wasser. Sogleich treibt uns die Strömung schnell weiter.

Alleingestellt

Wieder sind wir in einem beängstigenden Tempo unterwegs. Manchmal können wir zwischendurch anhalten, um eine unübersichtliche Stelle zu besichtigen; manchmal aber auch nicht. Dann schießt der Zweier an der letzten Kehre vorbei und uns bleibt nur noch die Zeit dafür, uns kurz darüber zu verständigen, was wer bis dahin im Flussbett zu erkennen meinte. Tatsächlich wissen wir aber nie, was auf uns zukommen würde. Für die nächsten Augenblicke ist jeder auf sich gestellt. Ich versuche mich noch schnell mit dem Einer voranzuschieben und dann fahren wir geradewegs in die Stromschnellen hinein. Das Wasser klatscht von allen Seiten um die Boote. Einmal versuchten sich René und Mark noch an den rostigen Holmen einer alten Eisenbahnbrücke festzuhalten; doch vergeblich, der Holm brach unter der Trägheitsmasse des Bootes und die Strömung drängte sie weiter.

Ins Getose

Meistens bleibt nur der Weg nach vorn, mitten ins Getose hinein. Unten angekommen, sind wir immer froh über das gute Ende und freuen uns auch heimlich darüber, dass wir so schnell vorankommen. Denn immer wenn wir es doch einmal geschafft haben anzulegen, dann ist es an der steilen Uferböschung und im dichten Gestrüpp des Waldes eine langwierige Angelegenheit, das Fahrwasser zu klären. Somit ist es manchmal ganz praktisch, sich nicht entscheiden zu müssen, wenn wir ohnehin keine Wahl mehr haben.

Keine Wahl

Einmal jedoch wäre die Möglichkeit einer Wahl gut gewesen. Vermutlich haben wir diese Möglichkeit auch gehabt, sie aber einfach übersehen. Meistens sind es schlecht einsehbare Flussbiegungen, an denen sich der Lauf verengt und sich umgestürzte Bäume in die Strömung legen, wo wir misstrauisch werden. Eben solch eine Stelle erreichen wir gerade wieder, als ich freimütig entscheide, weiterzufahren. Für einen Zwischenstop wäre es auch schon bald zu spät gewesen und ich fürchte durch die Unruhe eines vergeblichen Halte-Manövers alles nur komplizierter als nötig zu machen.

Schwierigkeiten

Die Situation scheint klar zu sein: Eine S-Linie mit Baumverblockungen, die von rechts einzufahren sei, daraufhin zügig zur linken Seite hinüberziehen, um noch am letzten Baumstamm vorbeizukommen. So tue ich es auch und Mark und René folgten mir mit etwas Abstand. Doch während ich mich zur linken Seite hinüberschaufele, bemerke ich, wie es zunehmend enger zwischen mir und der letzten Baumleiche wird. Am Ende streife ich mit dem Heck sogar das Geäst, bevor ich wieder ins freie Wasser gelange. Sofort dämmert es mir: Für den trägen Zweier könnte es hier Schwierigkeiten geben.

Es hat mich bereits ein ganzes Stück flussabwärts gezogen, als ich eine Kehre zum Wenden finde. Ich schaue flussaufwärts und erkenne Mark und René, wie sie angestrengt schaufelnd versuchen, den Zweier nach links hinüberzubringen. Ich fiebere mit und bin in einen Zustand hellster Aufregung versetzt. Doch plötzlich bleibt das Boot stehen. Da weiß ich, sie haben es nicht geschafft und werden in diesem Moment an den Baumstamm gedrückt. Im selben Augenblick dieses Gedankens kippt das Boot und bleibt auf der Seite liegen. Von der Besatzung ist nichts mehr zu sehen. Ich halte den Atem an, zähle die Sekunden und bin hin- und hergerissen – sollte ich sofort lospaddeln oder noch abwarten? Was ist jetzt richtig? Wo kann ich helfen?

Filmszenen

Endlich taucht Marks Kopf unterhalb des Baumstamms auf. Wo aber ist René? Mark schwimmt ans Ufer und rennt zurück zum Boot. Zwischen mir und dem Geschehen liegt so viel Raum, dass aus der Entfernung alles wie ein Film wirkt, dem ich nur gebannt zuschauen kann. Es rattert in meinem Kopf, doch mir will noch immer nicht einfallen, was jetzt zu tun sei. Dann sehe ich René. Den Kopf über Wasser, an einen Ast geklammert, versucht er das Boot zu halten. Mark – nun schon das zweite Mal heute – springt ins Wasser und greift nach der Bootsschnur. Tiefe Erleichterung löst meine Starre und ich hole tief Luft. Gleich darauf sehe ich mehrere Gegenstände auf mich zutreiben. Jetzt kenne ich meine Aufgabe und wie mechanisch greife ich nach meinem Paddel und drehe den Einer in die Strömung.

Videospiele

Während Mark und René das Boot sichern, paddele ich auf dem Wasser hin und her, um das Treibgut einzusammeln, welches schnell stromabwärts treibt. Es ist wie bei einem dieser frühen Videospiele, wo man Objekte einsammeln muss, die auf einen hereinstürzen. Das Besondere dabei ist, dass man dabei möglichst wenig verloren gehen lassen darf und sich vor vielerlei Gefahren in Acht nehmen muss. Hier gibt es ähnliche Schwierigkeiten: Ich darf keinesfalls zu weit abdriften, die Gegenstände unter der Wasseroberfläche sind zum Teil schlecht zu erkennen und das Boot besitzt nur begrenzte Ladekapazität. Das erhöht den Schwierigkeitsgrad ungemein. Um zwischendurch zwei Paddel und eine Trinkflasche am Ufer deponieren zu können, muss ich leider Marks Mütze und einen Wasserkanister ziehen lassen.

Zähe Minuten

Nachdem das Spiel vorbei ist, schaufele ich mich in Ufernähe zur Unglücksstelle vor. Die Strömung ist stark und der Fluss gibt keine Kehren frei. Ich benötige für die kurze Strecke mehrere zähe Minuten. Als ich endlich mit langen Armen und blasigen Händen bei Mark und René ankomme, ziehen sie gerade das Boot ins ruhige Flachwasser einer kleinen Bucht. Zwischen zwei Baumwurzeln können sie das Wasser ausschöpfen und die verbliebenen Utensilien bergen.

Keine Fotos

Die Bilanz der Havarie bringt Verwunderliches zutage: Das Oberdeck sieht ziemlich wüst aus. Wir hatten glücklicherweise alles an Bord vorsorglich mit Packriemen und Ösen vertäut, sonst wäre nichts in den Netzen geblieben. Diese Dinge sind jetzt zerknautscht und verschoben. Nur in den Ladeluken ist alles unversehrt und trocken geblieben. Während Mark und René das Boot leeren, habe ich tatsächlich vermeintlich wasserdichte Packsäcke zu entwässern. Obwohl wir die vorgeschriebene Anwendung, wie die Mindestwicklung, eingehalten haben, ist nichts trocken geblieben, wie es der Hersteller versprach. Nur ein einziger Sack hat dichtgehalten, vermutlich weil er bis zur Hälfte eingerollt war. Keiner der Säcke hat ein Loch, wie es eindeutig durch den Ballontest überprüfbar ist. Teilweise schütte ich das Wasser richtiggehend aus den Säcken, und leider auch aus Marks Fotokamera. Am Ende sind wir zwar froh darüber, alles Wichtige beisammengehalten zu haben, doch es ist schade, dass die Fotos aus Marks Kamera verloren sind.

Ein weiteres, noch viel größeres Problem tut sich auf. Im Dämmerlicht der Bäume beginnen uns Unmengen von Mücken von ungewöhnlicher Größe zu belagern. Sie sind geradezu riesenhaft für ein Insekt und damit viel größer, als wir das bisher von Mücken kennen.

Moskitomäßige Methoden

Ihre Größe ist aber nicht das eigentliche Problem, sondern ihre moskitomäßigen Methoden, mit denen sie uns aus dem Schatten der Erlen heraus ohne Unterbrechung attackieren. Das strapaziert unsere Nerven so sehr, dass wir am liebsten schreiend wegrennen möchten. Wir schlagen um uns und überall auf unserer Haut kleben Blut und verschmierte Mückenkadaver. Kaum ist das Havarie-Boot wieder halbwegs flott, treten wir einen ungeordneten Rückzug an und hoffen dabei, dass uns der Bober diese Nachlässigkeit durchgehen lassen würde.

Kaum seetüchtig

Das Gepäck haben wir nur provisorisch befestigt und unsere Spritzdecken sitzen auch noch nicht fest, als wir uns wieder der schnellen Strömung übergeben, die uns aus dem Zwielicht des Waldes heraustragen soll. Wir sind kaum seetüchtig, aber wollen unbedingt dorthin, wo uns kein Moskitogeschwader folgen würde. Und obwohl wir von diesem Tag nicht mehr viel zu erwarten haben, wünschen wir uns noch vor Einbruch der Dunkelheit ein lichtes Plätzchen, wo wir unsere Sachen trocknen können.

Steppe und Sand

Nicht weit hinter dem Wald finden wir die gewünschte Stelle an einer längeren Flussgeraden. Es ist die erhoffte nächstbeste Ausstiegsmöglichkeit. Daran grenzt eine weitläufige Wiese, von der ein Feldweg zum Fluss hinunterführt. Er ist offensichtlich die Zufahrt zu einer Furt, denn auf der gegenüberliegenden Uferseite befindet sich ein weiterer Weg zum Fluss hinunter, der ebenso im Wasser verschwindet. Auf beiden Seiten hat die Wiese den Charakter einer Steppe; magere Sandböden, die im Osten erst weit in der Ferne von dunklen Waldrändern umrahmt sind.

Militärplatz-Atmosphäre

Wegen der vielen Spuren von schweren Fahrzeugen tippen wir darauf, dass es sich um einen verlassenen Militärplatz handelt. Nach der Enge des Waldes ist diese Weiträumigkeit genau das Richtige für uns. Wir legen am rechten Ufer an und ziehen die Boote die Auffahrt hinauf, neben der ein kahler Turm aus Betonsteinen in den Abendhimmel ragt. Darauf steht wie zur Zierde eine einsame Birke in gedrungener Gestalt. Die grobe Witterung, der sie Jahr für Jahr ausgesetzt ist, sieht man ihr deutlich an. Wie ein Eremit thront sie dort oben, wo es wahrscheinlich stets noch windiger und trockener als hier unten am Boden ist.

Licht und Farbe

Das Blaugrau des Abendhimmels wird immer neu vom Licht der Abendsonne durchbrochen, die mit den Enden ihrer Strahlen den Boden berührt und leuchtende Farbtupfer in die Landschaft setzt. Manchmal glüht für Augenblicke der ganze Horizont und es lösen sich Lichtreflexe in der Ferne, die als Farbfetzen über die versteppten Wiesen ziehen. Die Heide liegt in einem pulsierendem Hell und Dunkel. Dazu bläst der Wind unbeständig und schüttelt hin und wieder mit lautem Flattern die Sachen von unserer Leine.

Mark und René haben heute schon gebadet. Da will ich es mir nicht schuldig bleiben und hole dies jetzt nach. Bei diesem Wetter bin ich heute der Einzige, der das freiwillig tut. Der Wind beißt mir in den nackten Hintern, doch das kalte Wasser erzeugt nur kurz ein unangenehmes Gefühl auf der Haut, das sich beim Auftauchen in ein belebendes Prickeln verwandelt.

Sand zwischen den Zehen

Wer das kennt, nach dem Bad halb abgetrocknet am Ufer zu stehen, den restlichen Sand zwischen den Zehen hervorpulend, um die Schuhe wieder anzuziehen, der kennt diese behagliche Frische, wie sie mich in diesem Augenblick umgibt. Dementsprechend gutgelaunt kann es für mich an diesem Abend auch kein Drama mehr sein, dass ein Stöpsel von meiner Luftmatratze fehlt. Heute Nacht würde ich eben öfter zwischendurch nachpusten müssen, weil mein selbstgeschnitzter Ersatzstumpen aus Weideholz keinen sonderlich zuverlässigen Eindruck macht. Wesentlich mehr wiegt die Tatsache, dass der Abendwind unsere Schlafsäcke trocknete, die wir noch bis in die Dunkelheit hinein auf unserer improvisierten Wäscheleine flattern lassen.

Gemütliches Erdloch

Nachdem für unsere Schlafstatt alles zum Besten vorbereitet ist, schauen wir uns nach dem passenden Flecken für das allabendliche Lagerfeuer um. Wegen der Wetterlage wählen wir eine Art Schützengraben, eine Vertiefung unweit unseres Zeltes, in der sich bald die wohlige Wärme eines Feuers ausbreitet, während der Wind über unsere Köpfe hinwegpfeift. Bald ist die Erdkuhle von einem unwiderstehlich-würzigen Duft von scharf Gegrilltem erfüllt.

Dunkle Nacht

Um uns herum ist eine dunkle Nacht heraufgezogen. Wir sitzen satt und träge auf unseren Hockern und resümierten zum Abschluss noch den ersten Tag auf dem Wasser: Es hätte heute vieles schlimmer kommen können. Dementsprechend freuen wir uns darüber, dass wir nun alle drei wohlbehalten in einem gemütlichen Loch auf einem öden Militärübungsplatz hocken, mit dem wärmenden Schein eines ansehnlichen Lagerfeuers in unserer Mitte. Diesen ersten Tag haben wir glücklich herumgebracht und sind dabei sogar ein Stück weit vorangekommen. Was morgen kommen wird, beschäftigt uns an diesem Abend wenig, und ich lege die Karte bald beiseite. Was den heutigen Havarie-Zwischenfall betrifft, so analysieren wir das Geschehene eingehend und einigen uns zuletzt darauf, dass Unaufmerksamkeit der Grund dafür gewesen sein muss.

Geisterschatten

Die Glut wärmt und über uns strahlt das helle Mondlicht die nachtblauen Wolkenfetzen an, die vom Nachtwind getrieben, dahinfliegen und ihre Schatten wie Geister über das Land schicken. Wir fühlen uns schwer und Müdigkeit treibt uns bald ins Zelt. Wir überlassen dem Mond das Feld.

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