Reportage: Hart an der Grenze, Tag 5

neiße grenzeAuf der Neiße: Durch wildes Land

Die Schwere des Vorabends hat sich bereits in der frischen Morgenluft aufgelöst, als wir gemeinsam mit dem Tal erwachen. Noch während des ersten Morgentees verdunstet die Morgenfrische im Schein der Sonne und steigt über den Baumkronen empor. Die Grenze von Schatten und Sonne bewegt sich leise auf uns zu.

Noch bevor uns das gleißende Licht erreicht, ist die Morgenfeuchte fort. Dieser Sommertag würde dem gestrigen in nichts nachstehen, und die anfänglich noch belebende Wirkung der Wärme würde bald umschlagen in eine erdrückende Mattigkeit. Die Wärme löst unsere Starre und der Anblick schäumenden Wassers versetzt uns in eine rege Betriebsamkeit.

Ablegen

Unter den verwunderten Blicken einiger Klosterbesucher packen wir eilig unsere Sachen ein und ziehen das Boot zum Wasser hinunter, wo wir es beladen. Wir wollen möglichst bald auf dem Fluss sein, um wie der Schaum mit dem Wasser hinter der Biegung ins Ungewisse zu treiben. Auf dem Klostergelände ist es noch ruhig und die Nonnen halten gerade ihre Messe ab, als wir unbemerkt von der Klosterinsel ablegen. Als sich hinter der Flussbiegung wieder Stille um uns herum ausbreitet, wirkt die Dauerberieselung des Wasserrauschens noch nach.

Häuser

Die Neiße verengt sich wieder bis auf wenige Meter und presst die Strömung in ein schmales Bett. Ihre Gestalt wirkt zwischen den hohen Ufern fast anheimelnd. Auf trübem aufgewirbeltem Wasser schießen wir an kleinen Fachwerkhäusern vorbei, die das Ufer säumen und mit ihrer niedrigen Bauweise an alte Fischerhäuser erinnern. Vor vier Tagen waren wir bereits einmal hier, um nach dem Fluss zu schauen, und haben uns von seinem idyllischen Bild eine Paddleridylle vortäuschen lassen. An jenem Nachmittag haben wir nicht erwartet, erst in vier Tagen wieder hier vorbeizukommen und sind stürmisch Richtung Zittau weitergefahren.

Sightseeing

Nach der Ortschaft werden wir langsamer. Die Strömung verläuft sich in einem tiefen Flussbett und die glatte Wasseroberfläche verrät ein neues Wehr. Wenige hundert Meter später taucht links von uns ein Sportplatz auf, an dessen Rand hohe Pappeln einen Weg begleiten. Am unteren Ende des Sportplatzes liegt das befürchtete Wehr groß und breit in einer Flussbiegung. Wir landen am Rand einer Kleingartenkolonie an.
Nachdem wir gemeinsam Boot und Gepäck ans Ufer gebracht haben, lasse ich René mit dem Umsetzen und Verladen allein, um in der naheliegenden Ortschaft neue Batterien für den Fotoapparat zu kaufen. Mein Landgang wird zu einer Sightseeing-Tour durch eine sympathische Kleinstadt der Lausitz. Ostrau ist ganz still an diesem Vormittag. Ich treffe nur wenige Menschen in den Strassen, und meist sind das spielende Kinder. Allein der Marktplatz ist etwas belebter, wo ich in einem Fotofachgeschäft gut bedient werde – Ich bin der einzige Kunde.

Gerettet, urtümlich und echt

Kaum habe ich den weiten Platz mit seinen frisch renovierten Giebelfassaden wieder verlassen, laufe ich wieder auf holprigem Kopfsteinpflaster zwischen Häuserklüften hindurch. In den engen Gassen lebt noch eine alte Stadt. An jeder Ecke und an jeder Wand lehnt die Zeit. Beinahe versiegelt und wie ein Museum wirkt die Stadt. Und trotzdem entdecke ich allerlei Gegenstände eines gelebten Alltags. Nichts ist unantastbar konserviert. Kaum radikale Modernisierungserscheinungen – Überwiegend geht der Wandel von gestern nach morgen behutsam vor sich. Es ist unklar, ob der Grund hierfür ein Mangel an Investitionskapital oder ein unbestechliches Gefühl der Einwohner für Authentizität ist. Jedenfalls scheint es mir sinnvoll zu sein, wenn das Verantwortungsgefühl vor dem Geld eintrifft. Diese Stadt scheint damit gerettet. Sie erscheint rustikal, urtümlich und echt.

Laubenpieper-Flair

Dieser Eindruck hält bis zuletzt an, als ich am Ende einer Strasse bei den letzten Häusern am Rande von Ostritz wieder ins Freie trete. Das Pflaster wird von Gras abgelöst und der restliche Weg ist ein Pfad, der am Rande der Kleingärten verläuft. Ich gehe vorbei an dichten Hecken, die gelegentlich den Blick auf sorgfältig angelegte Blumenbeete und bunte Flaggen freigeben. Trotz der vielen grellen Farben dominiert das Grün von geschorenem Rasen und saftig-wuchernden Wiesen am Wegesrand. Die Laubenpieper haben es sich eingerichtet. Die beflaggten Parzellen sind wohlgeordnet, zugeteilt, abgezäunt, gepflegt und geschmückt; jedoch sind sie menschenleer. Nur an einem Gartentor lehnt ein Moped. Doch vom Besitzer ist auch hier nichts zu sehen. Am Ende der Gärten liegt das Wehr und René, der am Rande des Weges mit dem Kopf an einem Zaun lehnend in der grellen Vormittagssonne döst und dabei gelegentlich aus einer Flasche süß-klebrige Orangenlimonade schlürft.

Brodelndes Wasser

Das brodelnde Wasser weist uns den Weg in eine weite Flusslandschaft, in der sich die Neiße in langgezogenen Mäandern ausbreitet. Der Fluss hangelt sich permanent von einer Talseite zur anderen. Die fernen Berge haben sich in den Nachmittagsdunst zurückgezogen, wo sie nur noch wie schemenhafte Skizzierungen in Grau schimmern. Darüber thront die hochstehende Mittagssonne, die uns allmählich mürbe macht.

Zähes Dickicht

Nur wenige Kilometer hinter Ostrau erreichen wir ein einsames Wehr, das sich in einer wildwüchsigen Umgebung präsentiert. Uns schaudert bei dem Gedanken ans Aussteigen. Wenn das Umtragen auch bisher nicht zu den Höhepunkten unserer Tour zählte, so bekommt es nun eine ganz neue Qualität. Nachdem wir das steile, von Weidedickicht verwachsene Ufer erklommen haben, finden wir uns ohne festem Schuhwerk in mannshohen Disteln wieder. In diesem nur schwer zu eroberndem Terrain fehlt uns zuerst der Überblick, denn die engen Mäander des Flusslaufs machen eine Orientierung schwierig. Wir kämpfen uns durch zähes Dickicht und hohes unwirtliches Gewächs. Unsere Füße und Beine brennen, als wir die stromabwärts gelegene Uferböschung erreichen.

Brennnesseln und andere Unbequemlichkeiten

Nachdem wir unser Gepäck mit einem nicht enden wollenden Spießrutenlauf durch Brennnesseln und andere Unbequemlichkeiten zur einzig möglichen Wiedereinsatzstelle getragen hatten, haben wir vorerst genug von einer derartig florierenden Wildnis und halten uns an Würstchen. Am Rande des Feldes im Schatten der Weiden lässt es sich erstmals wieder aushalten. Das Brennen an den zerkratzten Beinen lässt nach und das bescheidene Mittagsmahl bekommt uns nach diesen Strapazen umso besser.

Ertappt

Während wir so essen und den Blick an den entfernten Höhen entlang schweifen lassen, vernehmen wir ein sonderbares Geräusch. Es kam vom Wasser hinter uns und war keines, wie es für hiesige Tiere gewöhnlich ist. Ein solches Quieken ist uns neu und weckt unsere Neugier. Wir rennen zum Ufer hinunter. Zwischen den Bäumen entdecken wir Kinder im Wasser, die sich gerade ans gegenüberliegende Ufer flüchten. Wir haben sie geradewegs dabei ertappt, wie sie unsere Paddel stehlen wollten. Sie müssen sich unbeobachtet gefühlt haben. Nur so ist es erklärbar, dass unser plötzliches Erscheinen sie so erschreckt. Der Junge, der schon nahe am polnischen Ufer ist, schreit Unverständliches zu seinem Kompagnon hinüber und gestikuliert dabei hektisch. Der andere Junge erschrickt, rennt zurück zu unserer Uferseite, bis er so nah ist, dass er aus sicherem Abstand die Paddel zu uns ans Ufer herüberwerfen kann. Daraufhin flüchtet er sofort zur anderen Uferseite, wo wir ihn nicht zu fassen kriegen würden.

Einmal ein großer Paddler sein

Wir hingegen sind nur froh darüber, dass uns unsere Wasserschlägel nicht abhanden gekommen sind. Was hätten wir wohl ohne sie gemacht? Unsere Weiterfahrt hätte dadurch jedenfalls zweifellos eine ganz neue Wendung erfahren; und die hätte uns aller Wahrscheinlichkeit nicht mehr weit gebracht. Während wir noch über derartigen Schreckensszenarien grübeln, fischen die Jungs schon wieder mit einem Netz im Kehrwasser des Wehrs, und tun so, als wenn nichts gewesen und wir niemals da gewesen wären. Nur als wir ablegen, um in die abenteuerliche Ferne stromabwärts zu verschwinden, können sie ihre neidischen Blicke nicht verbergen und schauen uns wehmütig nach. Vielleicht hat einer von ihnen – vielleicht jener, der die Paddel genommen hatte – in diesem Augenblick den Entschluss gefasst, einmal ein großer Paddler zu werden. Und er würde bald, ähnlich wie wir es jetzt tun, kräftig am Paddel ziehen, um Strecke zu machen und die wilden Flüsse dieser Welt abzuklappern.

Mit jedem Paddelschlag

Wieder unterwegs, wollen wir die günstigen Bedingungen dazu nutzen, vorwärts zu kommen, zumal wir in dieser Richtung in den letzten Tagen wenig erreicht hatten. Unser Ziel haben wir noch nicht ganz aufgegeben, auch wenn das zugegebenermaßen an Phantasterei grenzt. Trotzdem kommen wir der Oder mit jedem Paddelschlag näher.

Zäune

Die folgende Etappe fordert außer etwas Hitzebeständigkeit nur wenig Ausdauer. Auf der Höhe des Nachmittags erreichen wir ein weiteres tückisches Wehr, wie sie es seit den letzten Tagen alle waren. Tückisch sind diesmal allerdings weniger die natürlichen Begebenheiten. Ein elektrischer Viehzaun ziert jedoch den einzig vernünftigen Ausstieg. Zum Viehzaun gehört ein Dorf, das sich im Westen nur mit vereinzelten Randgehöften zeigt. Diese Abseitslage zum Fluss war bisher auf unserer Reise für alle Ortschaften östlich und westlich der Neiße typisch. Man hält Abstand zur Neiße. Aus irgendeinem Grund haben sich alle bisher angetroffenen größeren und kleineren Siedlungen vom Fluss abgewandt – Da hatte auch Zittau mit seinen Abwässern keine Ausnahme gemacht. Nur manchmal zwischendurch überquerte eilig eine Brücke den Fluss oder die verwaisten Gebäude aus einer anderen Zeit waren zurückgeblieben, die keiner mitnehmen konnte. Selbst die Schafe, die den tückischen Elektrozaun schon kennen, beobachten uns hier aus sicherer Entfernung und wagen es nicht, näher zu kommen.

Keine Spur bleibt zurück

Uns lockt die Fischtreppe des Wehrs mit ihrer komfortablen Beschaffenheit. So verlieren wir alle Scheu vor der heimtückischen Elektrizität und schleppen unsere Ausrüstung über die gemauerten Stufen aus glitschigem Feldstein nach unten. Erstmals reicht es nun dank des abnehmenden Proviants, nur das Obergepäck vom Boot zu nehmen. Den beladenen Bootskörper bekommen wir schon ohne viel Aufheben ins Unterwasser. Trotz der wenigeren Mühe kommen wir dabei ins Schwitzen. Drum können wir es nicht bleiben lassen, die sinkende Spätnachmittagssonne bei einem ausgelassenen Bad im brodelnden Kehrwasser des Wehrs zu feiern. Während uns danach die heißen Steine der Uferbefestigung wieder aufwärmen, beobachten wir, wie die Wasserflecken auf der rauen Felsoberfläche trocknen und immer kleiner werden, bis nichts mehr von ihnen übriggeblieben ist. Von uns bleibt keine Spur zurück, als wir Kurs in die stillste Zeit des Tages nehmen.

Eine Brücke über uns

Dieser Sommertag neigt sich langsam dem Ende zu. Doch bevor wir uns für ein abgeschiedenes Plätzchen am Flusslauf entscheiden, wollen wir noch ein paar Flusskilometer runterschaufeln. Wir haben bereits eine Handvoll schöner Lagerstellen hinter uns gelassen, als wir lauter werdende Verkehrsgeräusche bemerken. Das helle Geräusch von Rädern auf Asphalt kommt immer näher. Plötzlich erhebt sich vor uns eine unvermutet große Brücke, die hoch und breit über die wilde Natur hinwegführt. Wir haben eine stark befahrene Straße mit einem Grenzübergang erreicht. Direkt dahinter brodelt das Wasser an einer kleinen Staustufe. Sie besteht aus einfachen Spundwänden, die quer in den Fluss gerammt sind. An der Kante fletscht scharfkantiges Eisen seine Zähne und droht damit, unser Boot aufzuschlitzen. Wir scheuen zurück und legen an.

Vorwärts

Unsere Hoffnungen auf einen baldigen Lagerplatz zerschellen in diesem Augenblick. Für diese Nacht hier zu bleiben, kommt für uns nicht in Frage – Mit Grenzern haben wir bereits so unsere Erfahrungen gemacht. Umkehren wollen wir aber auch nicht: Das haben wir noch nie getan, so schön die Sandbänke hinter uns auch gewesen sein mögen. Also müssen wir vorwärts, vorbei an diesem Hindernis, das zwischen uns und der nächsten Sandbank liegt, die sicher irgendwo stromabwärts im letzten Abendlicht auf uns wartet.

Still und laut

Nichts soll uns aufhalten. Mit dieser Entschlossenheit ziehen wir Gepäck und Boot über die rostigen Stahlbleche einer Flutklappe nach oben auf eine weitläufige Wiese. Oben angekommen, stehen wir inmitten von Gräserblüten, die in unzähligen Pastelltönen leuchten. Hinter uns hallen in regelmäßigen Abständen die Motorengeräusche der nahen Überlandstraße heran. Nur hundert Meter flussabwärts liegt eine kriegsversehrte Brücke. Ihre stillen Reste wirken in der wilden Wiese wie eine angestaubte Kulisse für ein dramatisches Theaterstück, dessen letzter Akt schön längst in einem unausweichlichen Finale geendet ist. Der Vorhang ist gefallen. Es rollen keine Flüchtlingstrecks mehr und der Donner der letzten Sprengung ist verflogen. Zurück bleibt der Widerstreit zwischen stiller Vergangenheit und lauter Gegenwart. Die Vergangenheit ist einfach nur präsent und mahnt geduldig, während die Gegenwart ihre gleichmäßigen Impulse über die Straßen ins Land schickt.

Brückenmonumente

Wir schreiten flussabwärts auf die alten Brückenmonumente zu. Uns ist dabei so, als treten wir zwischen zwei Brückenpfeilern durch ein Tor zu einer zeitlosen Existenz, wo das Alter von Beton, Ziegeln und Stahl unwichtig ist. Vor uns liegt nur noch hohes Gras und eine steile Böschung. Als wir uns wieder auf dem Wasser befinden, färbt bereits rotes Abendlicht das Land. Die Motorengeräusche verlieren sich schnell hinter uns. Vor uns breitet sich das Zwielicht eines späten Tages aus. Die Wasseroberfläche glänzt dunkel. Wir bewegen uns zügig vorwärts. Trotzdem sind wir zögerlich. Ein weiteres Wehr wollen wir heute nicht mehr erreichen. Doch so sehr wir auch Ausschau halten, es lockt nur das verbotene, polnische Ufer mit traumhaften Stränden, die im letzten Tageslicht schimmern. Wir fürchten eine weitere nächtliche Vertreibung und paddeln weiter. Unser Glück muss auf der schattigen Westseite des Flusses zu finden sein.

Bis zum Dunkelwerden

Die Gelegenheiten fürs Glück sind jedoch nur spärlich und die Zeit bis zum Dunkelwerden ist knapp. Deswegen zögern wir nicht weiter, als wir linkerhand auf einen grobkörnigen Kiesstrand zutreiben. Wir landen an und richten zügig unser Nachtlager ein. Das Zelt bleibt im Boot. Stattdessen bauen wir die Strandmuschel auf, denn der klare Abendhimmel verspricht eine trockene Nacht. Der Platz ist ungewohnt komfortabel und mit direktem Blick auf das Wasser. Der Fluss hat genügend Feuerholz angeschwemmt und das nötige Reisig pflücken wir von den verdorrten Ästen, die hinter uns ins Flussbett ragen.

Nicht abtreiben

Dermaßen auf die Dunkelheit vorbereitet, bleibt Zeit, das letzte Tageslicht für ein Bad im Fluss nutzen. Die Neiße strömt hier in einem verengten Flussbett zwischen Sandbank und Ufer so schnell, dass wir uns immer wieder vom oberen Ende der Sandbank ans untere Ende treiben lassen, weil wir mit unserem Schwimmen nichts gegen die Strömung ausrichten können. Um nicht abzutreiben, ist es dabei wichtig, immer rechtzeitig wieder das Land anzusteuern. Hätten wir den Absprung einmal verpasst, so hätte uns der Sog stromabwärts gezogen. Wir lassen uns auf mehreren solcher vergnügten „Fahrten“ mit dem Wasser treiben, bis wir uns frisch und sauber fühlen. Unsere Haare sind noch nass, als vor uns ein kleines Feuer im Kies flackert. Im warmen Rundkreis des Feuers bereiten wir das Essen zu. Heute Abend sind das Nudeln, für René aus der Dose und für mich aus der Tüte.

Niemandsland

Der bewegte Schein der Flammen legt sich auf die steilen hochumwachsenen Ufer, zwischen denen wir wie in einem Canyon sitzen. Nur ein ungewohnt schmaler Streifen des Nachthimmels steht mit seinen Sternen reglos über uns. Die Umgebung ist vom lodernden Widerschein des Feuers angeleuchtet, das die hohen Laubwände der Ufer zu Leben erweckt hat – Gespenstertanz. Was uns am Vorabend vergönnt blieb, erleben wir heute umso intensiver: Wir sind frei. Wir atmen tief ein. Über dem Wasser liegt etwas Anziehendes. Die bürokratisierte Gesellschaft kann uns heute nicht mehr erreichen. Eine Staatsgrenze existiert nur noch pro forma. Deutschland und Polen gibt es hier nicht, und auch keine politische Zugehörigkeit. Wir fürchten keine Uniform, denn wir haben das Gefühl, dass wir nicht gefunden werden können. Wir sind irgendwo zwischen den Grenzen, rausgefallen aus der Gegenwart, unterwegs in einem Niemandsland. Das ferne Grollen von weit stromaufwärts gehört dazu. Es erfüllt uns mit Wohlbehagen, wissen wir doch, dass wir den Süden mit seinen Gewittern schon vor Tagen verlassen haben. Unter klarem Sternenhimmel verkriechen wir uns in die Schlafsäcke – schlaftrunken verlieren sich unsere Sinne im Schmatzen und Glucksen des Flusses.

 

Nachtrag: Eine nasskalte Nacht

neiße paddeln
Ein letzter Blick aufs Wasser: Der Fluss ist nahe, fast irgendwie näher! Träge richten wir uns auf und schauen uns irritiert um. Die Umgebung bestätigt diesen Eindruck: Wir sind näher an den Rand der Sandbank gerückt. Die Fußenden unserer Schlafsäcke trennt nur noch ein schmaler Schotterstreifen vom Wasser.

Allmählich registrieren wir, dass nicht wir, sondern das Wasser näher gekommen sein muss. Es ist also gestiegen. Langsam wird uns klar, dass sich ein nächtlicher Badespaß ankündigt. Den wollen wir nicht haben. Müde wie die Murmeltiere und wenig abenteuerlustig starren wir auf die Wasserfläche und mit jedem Zentimeter, den das Wasser steigt, müssen wir uns damit abfinden, dass unsere Stellung nicht zu halten ist. Wir werden handeln müssen!

Halluzinieren

Zögerlich und noch etwas unwillig tauschen wir das Nachthemd gegen unsere steifen Sachen. Das allein kann uns noch nicht munter machen. Also geht die Bequemlichkeit noch einmal vor und wir wollen zuerst einmal feststellen, ob unsere derzeitige Position wirklich ernsthaft gefährdet sei. Zu diesem Zweck markieren wir den Wasserstand mit Steinen und Hölzern, um uns daraufhin schnell wieder in unsere kuscheligen Schlafsäcke einzurollen und die Entwicklung an unserer provisorischen Pegelanlage zu beobachten. Zuerst meinen wir zu Halluzinieren – die Müdigkeit macht uns eine Unterscheidung zwischen Wirklichkeit und Einbildung schwierig – doch alle Hoffnung ist vergeblich. Das Wasser überschwemmt tatsächlich die Pegel. Zuletzt verhelfen uns die abschwimmenden Reste unseres abendlichen Lagerfeuers schnell zu der Einsicht, dass wir nun wirklich den Platz räumen sollten, den die Neiße zurückfordert.

Eine Insel!?

Wir stecken neue Pegel ab und sichern das Boot mit der Leine. Daraufhin verstauen wir alles lose Herumliegende in den Ladeluken und reduzieren unsere Schlafstatt auf das Nötigste. Dadurch lässt es sich leichter auf den höchsten Punkt der Insel schaffen. Eine Insel!? Was ursprünglich eine ganz normale Sandbank gewesen war, ist jetzt schon fast gänzlich von Wasser umspült. Wir haben uns vom Ufer gelöst, zu dem wir jetzt dümmlich herüberschauen. Unsere Gesichter müssen in diesem Augenblick ungefähr so aussehen, wie das von diesem berühmten Gärtner, der im Augenblick des Falls begreift, dass er an dem Ast sägte, auf dem er saß.

Angst

Darüber erreicht mich ein plötzlicher Anfall von Angst. Ich springe zum Ufer und klettere mit Renés Hilfe auf die Zwei-Meter-Uferkante, um mich dort anschließend energisch mit dem Paddel durch dichtes Ufergestrüpp zu schlagen. Als eine dunkle zehn Meter breite Wand aus Dickicht hinter mir liegt, erreiche ich ein freies Feld, auf dem der ausgebreitete Mondschein liegt. Dieser Anblick ist eine Erlösung: Nichts begrenzt die freie Sicht und das zartblasse Licht wirkt beruhigend auf mich. Die Schatten liegen hinter mir und ich kenne nun eine halbwegs passable Rückzugsmöglichkeit. Ich bin erleichtert. Und wenn der Kahn an der Böschung nicht hochzukriegen wäre, so können wir immerhin noch paddeln.

Nachtwache

Mit dieser Gewissheit richten wir es uns auf dem höchsten Punkt der Insel ein und warten auf das Zeichen zum endgültigen Aufbruch. Noch hoffen wir auf Verschonung. Wir halten abwechselnd Wache und lesen im Licht der Taschenlampe alle zwanzig Minuten die aufgestellten Pegel ab, die nacheinander vom Wasser eingesammelt werden. Anhand der Ergebnisse errechnen wir immer neue hypothetische Wasserstände – die Tendenz bleibt steigend. Als dann die Anstiegswerte tatsächlich kleiner ausfallen, verhält es sich ähnlich mit unserem von Müdigkeit geplagten Verstand. Die weiteren Berechnungen werden diffus und es ist nicht mehr klar, inwieweit unsere Hoffnungen das Ergebnis beeinflussen. Präzise Vorraussagen gelingen uns nicht.

Endlich Schlafen

Erst gegen vier Uhr morgens scheint sich der Pegel endlich unseren Prognosen anpassen zu wollen und bleibt konstant. Das genügt uns als Bestätigung. Wir fallen kurz darauf in einen tiefen ohnmächtigen Schlaf, aus dem uns hin und wieder Träume aufschrecken, wie der von einer nassen Kälte, die am Schlafsack leckt und uns auffahren lässt.

Hart an der Grenze, Tag 4 <<< >>> Hart an der Grenze, Tag 6

Diese Reportage von Anfang an lesen? Hier geht’s zu: Hart an der Grenze, Tag 1

Hart an der Grenze – Tag 6 erscheint in den nächsten Tagen hier auf wildweitweg.de.

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