Reportage: Hart an der Grenze, Tag 6

neiße paddelnAuf der Neiße: Ins Stadtleben

Am Morgen fühlen wir uns noch knautschig, aber die Schlafsäcke sind wenigstens trocken geblieben und der blaue Himmel lockt mit einem neuen Tag, der wohl besser als die zurückliegende Nacht sein würde.

Noch müde, arrangieren wir das Frühstück auf dem feuchten Boden unserer kleinen Insel. Währenddessen steigt die Lufttemperatur und der Wasserstand sinkt.

Wie grobes Seemannsgarn

Nutellabrote holen uns zurück ins Leben. Nach dem Frühstück, wir sind noch nicht ganz fertig mit dem Beladen des Boots, liegen unsere kleinen Pegelmessstationen, die wir in der Nacht zuvor eingerichtet hatten, schon wieder im Trockenen. Bald ist der Pegel auf das Niveau des Vorabends zurückgefallen. Fast müssen wir nun das Boot dem Wasser noch hinterher tragen. Wären wir jetzt erst erwacht, hätten wir wohl nicht mehr als einen schlechten Traum vermutet, so unwirklich wie grobes Seemannsgarn wirken unsere nächtlichen Erlebnisse bereits wieder angesichts des seichten Flusses. Als wir ablegen, lassen wir wieder eine einladende Sandbank hinter uns, die noch größer ist als jene, die wir am Vorabend entdeckt hatten. Mit ihrer unschuldigen Schönheit kann sie jetzt die nächsten ahnungslosen Paddler anlocken.

Die nächste Erlebniskarte

Mit jedem Meter auf dem Wasser gewinnen wir Abstand zum Erlebten. Allerdings haben wir bereits die nächste Erlebniskarte gezogen. Eine weitere Episode in diesem Abenteuerspiel erwartet uns schon sehr bald hinter einer unscheinbaren Rechtskurve. Wieder scheint es sich um eine klassische Standardsituation zu handeln: ein Wehr. Die Bedingungen sind diesmal jedoch nicht eindeutig. Ein Durchlass führt zwar ausreichend Wasser und scheint auf den ersten Blick eine Befahrung zu rechtfertigen – Es gibt jedoch nur eine schmale Ideallinie zwischen den scharfkantigen Spundwänden, die wie für uns abgemessen ist und keinen Fehler verzeiht, wenn wir nicht präzise genau in den einschüchternd wuchtigen Schweif eintauchen.

Ratespiel

Was wir zuerst als eine Geschicklichkeitsaufgabe auffassen, wird schnell zu einem Ratespiel. Nachdem die Begutachtung vom Ufer aus eine einzigmögliche Befahrungslinie ergab, bleibt uns auf dem Wasser plötzlich als einzige Orientierungshilfe nur der geschätzte Abstand zum Ufer, denn mehr ist vom Boot aus nicht zu sehen, als wir auf die tosende Stelle zutreiben. Für eine Umkehr ist es bereits zu spät. Die Strömung hat uns fest im Griff. René sitzt vorne und ruft mir Steueranweisungen zu. Er schätzt die Situation gut ein und navigiert uns zur richtigen Stelle an der Sturzkante. Das Boot kippt nach vorne, mit Paddelschlägen halte ich es gerade, und wir schießen abwärts. Im nächsten Augenblick reiten wir auf einem tosenden Schweif und jubeln.

Dasselbe Wehr

Unser Wagemut wird an diesem Vormittag mit einer längeren hindernisfreien Flussstrecke belohnt. Erst pünktlich zum Mittagessen erreichen wir ein knackiges Doppelwehr, wo zwei aufeinander folgende Schwellen das Wasser verschlucken und unterhalb des Wehrs als Walze ausspuken. Sofort ist uns klar, dass hier nichts befahrbar ist. Keinerlei Kanu-Komfort, den wir auch nicht am Ufer finden. Das hält ganz andere Herausforderungen für uns bereit: einen kleinen Geländetriathlon. Der beginnt mit Gepäckweitwurf. Als das Gepäck sicher auf der Böschung liegt, kommt das Klettern an einer steilen Uferwand. Als auch das mit der Hilfe von Seilen gemeistert ist, bildet der Wegebau durch meterhohe Wildnis die Schlussetappe. Das alles sind Disziplinen, in denen wir uns diese Woche schon üben durften, und irgendwie ist alles genauso wie gestern Mittag. Selbst das Wehr, gelegen in einer Linkskurve, und die Einöde ringsherum, erinnern an das Erlebte von gestern. Es ist fast ein bisschen wie bei Kafka, und wir werden den Eindruck nicht los, dass wir uns im Kreis bewegen.

Im Kochtopf

Die Mittagssonne brennt auf unsere Schädel. Trotzdem versuchen wir zu überlegen. Wir finden keinen vernünftigen Einstieg am Unterlauf. Von „komfortabel“ stand auch nichts im Reiseprospekt. Also steige ich mit dem Boot in den auslaufenden Schweif am unteren Ende des Wehrs. Es fühlt sich an wie in einem Kochtopf, oder wie etwas, was sich eben so anfühlt. Um mich herum zerrt und gurgelt das Wasser. Doch es ist kalt und zieht mir allmählich die Wärme aus den Beinen. Meine Füße werden taub und ich fühle die zerkratzten Beine nicht mehr, die eben noch brannten, als wir uns durchs Dickicht kämpften. Während René unsere Sachen heranschafft, halte ich das Boot fest und verstaue das Gepäck. Immer wieder will mir die Strömung in unaufmerksamen Momenten das Boot entreißen. Erst als René im Boot sitzt und ich wie ein Bobfahrer in meine Sitzluke springe, legen wir mit einem zügigen Manöver ab und stoßen uns aus der Stromschnelle.

Strandleben

Außerhalb der Turbulenzen lockt uns auf der gegenüberliegenden Seite eine Sandbank. Sie ist lang und von feinem, hellen Sand, den das Kehrwasser des Wehrs dort abgelegt hat. Uns erwarten fünfzehn Meter exquisites Strandleben, direkt vor unserem Bug. Das ist lang genug. Wir können nicht widerstehen und legen an. Unsere anfänglichen Bedenken wegen dieser Grenzsache verfliegen schnell, zumal sich dieser Sand nicht auf polnischem Festland befindet, sondern zum Flussbett gehört. Es ist ein Strand zwischen den Grenzen. Seine Oberfläche ist geschmeidig und weicher Sand brennt unter unseren Füßen.

Ein großer Whirlpool

Wir springen ins tiefe Wasser unterhalb des Wehrs. Das Wasser brodelt wie in einem großen Whirlpool. Unsere Sinne erfrischen sich und unser Verstand kehrt zurück. Als wir daraufhin nass und triefend auf dem Fluss treiben, holt uns die Hitze wieder ein. Das Flussbett ist frei. Wir essen und gleiten dabei lautlos an vielen Buschweiden vorbei, die wie Tupfer den Flusslauf säumen. Dahinter befindet sich nur verdorrte Heide und manchmal in einiger Entfernung der vereinzelte Ausläufer eines Waldes, der von den Hängen der Lausitz herunterreicht. Aus den Hügeln werden Berge, die bald darauf wieder nah an den Fluss heranreichen.

Kunststückchen

Wir erreichen einen stillen Ort, wo sich Laubenpieper den heißen Nachmittag am Wasser vertreiben. Sie sagen uns, dass wir hier einen Vorort von Görlitz erreicht haben und halten weiter Siesta, ohne dass wir sie stören könnten. Am Ortsausgang finden wir unser drittes Wehr des Tages. Dabei handelt es sich vielmehr um einen ganzen Wehrkomplex, der aus mehreren Staubauten besteht, die den Fluss aufteilen und in mehreren Abzweigungen wegführen. Wir wählen den größten Wasserlauf, der geradeaus abfließt. Er besitzt das höchste Gefälle von allen Staustufen. Das spricht für ihn, ohne das Unterfangen leichter zu machen. Ein durch Holzbohlen regulierter Durchlass im Wehr lässt jedoch eine zügige Abfertigung erwarten, wenn wir es ein wenig akrobatisch beim Umtragen anstellen würden. Wir hieven das nicht mehr ganz voll beladene Boot Stück für Stück über die aufgequollenen Bohlen, damit es René unten in Empfang nehmen kann, während ich es von oben langsam herabseile. Unser kleines Kunststückchen verläuft planmäßig und wir sparen wertvolle Zeit, die wir in der nächsten Stadt brauchen werden. Görlitz erwartet uns.

Lausitzer Perlen

Die „Perle der Lausitz“ nimmt uns ganz unvermittelt in Empfang. Gerade folgen wir noch einem engen Wasserlauf und wähnen uns in wilder Natur, als der träg gewordene Fluss in einer weit ausholenden Flussbiegung Veränderungen ankündigt. Im letzten Drittel der Kurve öffnet sich ganz unerwartet der Blick auf das Görlitzer Aquädukt. Das ragt vor uns wie ein Tor in den Himmel. Von Bäumen eingerahmt, schwingt es sich in engen, hohen Bögen über den breitgewordenen Fluss. Dicht am linken Ufer passieren wir das Bauwerk. Kaum sind wir darunter hindurch, hören wir die nahen Verkehrsgeräusche einer Straße und sehen dem Wehr Nummer Vier dieses Tages entgegen.

Schöne Wehre

Zu unserer Freude hat eine Stadt wie Görlitz aber nur schöne Wehre, wie dieses zum Beispiel, das sich vor uns am Ende der weit ausholenden Flusskrümmung präsentiert. Es ist eine Art „Fächerwehr“, das seinem fiktiven Namen dadurch gerecht wird, dass es sich ganz real mittels regelmäßig gesetzter Balken dem Wasser entgegensetzt, das hier mit ganzer Wucht auf den Hang der Stadt zuströmt. Das Wasser wird durch die hölzernen Stämme in seiner Kraft gedämpft und verliert sich zwischen diesen sogenannten Fächern. Dieser Juli ist jedoch zu wasserarm, um dieses Schauspiel eindrucksvoll zu demonstrieren. Der Fluss bringt am unteren Ende des Wehrs nur ein bescheidenes Plätschern hervor, wodurch das imposante Bollwerk etwas komisch und überdimensioniert wirkt.

Hoffnung

In Görlitz verbringen wir einen sonnigen Nachmittag. Wir betreten einen schattigen Steg unterhalb des Berghangs, an dem Bäume bis ins Wasser reichen. Weiter oben führt der Oder-Neiße-Fernradweg in die Stadt. Nachdem wir uns kurz mit dem Gelände vertraut gemacht haben, legen wir in der angenehmen Gesellschaft von zwei Anglern eine späte Mittagspause ein. Während wir Fisch aus der Büchse essen, zeigt der angelnde Großvater seinem Enkel, wie man fachgerecht zu frischen Fischen kommt. Mit etwas unbeholfenen Bemühungen versucht der Junge es dem erfahrenen Mann nachzutun. Nebenher berichtet uns der munter gewordene Alte davon, wie schön einfach seit kurzem wieder alles an der Neiße wäre. Zum Nachtangeln ist nun nur noch eine telefonische Anmeldung beim Bundesgrenzschutz nötig. In Erinnerung an unsere Erlebnisse in den letzten Tagen mit unserer schriftlichen Genehmigung müssen wir darüber lächeln, denn bisher haben wir auf unserer Reise von einer solchen lockeren und ungezwungenen Umgangsweise mit dem Grenzfluss nichts gespürt. Doch das Erzählte macht uns Hoffnungen.

Plumps und weg!

Während wir hungrig essen, suchen unsere Augen die Umgebung ab. Unsere Blicke können es nicht lassen, immer wieder flussabwärts auf das gewaltige Wehr zu schielen. Dabei reift in uns ein Plan: Es muss doch möglich sein, ähnlich wie beim vorherigen Wehr, das Boot mit Sack und Pack einfach über die Wehrkrone zu schleifen, und dann plumps und weg! Kaum haben wir diese Idee ausgesprochen, sind wir uns darüber einig, es auf einen Versuch ankommen zu lassen. Wir verabschieden uns bald und legen wieder ab, was der Alte mit einem verwunderten Gesichtsausdruck kommentiert. Doch er wagt es nicht zu fragen, was wir jetzt vorhaben. Stattdessen schaut er uns stumm nach und beobachtet uns kurz darauf, wie wir auf der Wehrkrone sitzen und uns im friedlich plätschernden Wasser mit einem kühlen Sitzbad erfrischen. Dann schliddern wir mit dem Boot auf dem glitschigen Untergrund bis an die Sturzkante, und plumps, einen Augenblick später sind wir verschwunden und nicht mehr zu sehen.

Mehr als nur ein Wehr

Das Wasser trägt uns schnell in die alte Stadt, die uns von nun an auf beiden Seiten der Neiße begleitet. Das Flussbett ist komfortabel und das Wasser wird allmählich tiefer. Das ist ein eindeutiges Indiz für das nächste Wehr und es ist klar, dass eine historische Stadt wie Görlitz mehr als nur ein Wehr zu bieten hat. In der Altstadt an einer ehemaligen Wassermühle mit Wehr angelangt, schwitzen wir schon wieder. Die herabsteigende Sonne brennt weiterhin so heiß wie schon den ganzen Tag. Dazu kommt nun ein Deutsch-Polnisches Straßenfest, das direkt an der neuen Stadtbrücke stattfindet, die seit kurzem wieder beide Stadtteile miteinander verbindet. Die Einwohner hatten sich für diese grenzüberschreitende Verbindung eingesetzt. Heute zelebriert Görlitz und Zgorzelec diese neue Einheit und das gemischte Publikum genießt die wiedergewonnene Freiheit sichtlich. Während die älteren Besucher in gediegener Garderobe am Neißeufer flanieren, wippt ein bunter Reigen verschiedenster Jungmenschen in einvernehmlicher Geselligkeit im Takt von Ska-Musik.

Landgang

Zuerst verunsichern uns die zahlreichen Uniformen. Doch die scheinen zum Grenzübergang zu gehören und so wagen wir einen Landgang. Der Alte scheint recht zu behalten. Anders als wir erwarten, nimmt niemand von uns Notiz. Man lässt uns gewähren und beachtet uns nicht einmal in besonderem Maße, wie es sonst gelegentlich in der Fußgängerzone bei abgehalfterten Vagabunden mit Kajak im Schlepptau üblich ist. Plötzlich scheint es egal zu sein, ob wir hier paddeln oder nicht. Wir sind nicht mehr verdächtig. Hätten wir uns ohne Boot und Packsäcke unters Volk begeben, so wären wir vermutlich nicht einmal aufgefallen. Unser sonderbares Treiben wird toleriert. Während wir angestrengt unseren Kram über den Platz tragen, herrscht eine entspannte Atmosphäre um uns herum. Dazu veranstaltet eine polnische Band gerade ein Ska-Spektakel auf der Bühne, das lautstark herüberschallt. Unsere Ohren sind Stilleres von den letzten Tagen gewöhnt.

Klares Ziel

Trotz eines klaren Ziels, wir wollten weiter stromabwärts am Wehr vorbei, brauchen wir eine Weile, um zu begreifen, dass der Weg nur über ein vollbesetztes Cafe an der alten Wassermühle führt. Wir schauen hier und da und tippeln noch etwas in diese und jene Richtung, aber letztendlich bleiben wir vor dem Cafe stehen. Wo früher einmal ein Mühlenrad klapperte und Müllergesellen ihre staubige Arbeit verrichteten, tummelt sich an diesem lauten Nachmittag eine Unmenge von vergnügungswütigen Wochenendtouristen, die sich zum kollektiven Kaffeerausch bei Kuchen und Sahnetorte versammelt haben.

Strandpartyinsel

Wir bekommen Angst, doch die Cafe-Betreiber geben sich auf unser Nachfragen hin überraschend entspannt und segnen unser Vorhaben mit einem lockeren „Okay“ ab. Die Gäste und ihre emsigen Bedienungen hingegen wirken etwas verschreckt, als wir unser bizarres Treiben beginnen. Zur Eingewöhnung schleppen wir zuerst das Gepäck zwischen den Tischen hindurch zur Treppe hinunter. Das untere Ufer ist als eine Art Strandpartyinsel angelegt, die eingebettet zwischen dem Flusslauf und dem alten Mühlengraben liegt. Dort häufen wir nach und nach unser Gepäck an. Kaum hat sich die erste Verunsicherung der Gäste wieder gelegt, beginnen wir die Blumentöpfe von der Treppenbegrenzung abzuräumen. Das sorgt unter den Gästen für erneute Beunruhigung. Als wir daraufhin mit unserem grünen Fünf-Meter-Ungetüm die Terrasse betreten, verstummt die belebte Sonntagsidylle und wir schauen in entsetzte Gesichter. Für einen kurzen Moment scheint der vielstimmige Redeschwall über dem Cafe zu versiegen. Angesichts unseres entschlossenen Auftretens räumen diejenigen, die sich in unmittelbarer Gefahr wähnen, nach dieser Schrecksekunde ihre Sitzplätze und geben die Terrasse frei.

Stadtleben: Ausklang

Nachdem wir uns über ein paar Tische hinweg schnell über die Treppe nach unten zurückgezogen haben, vernehmen wir hinter uns schon wieder das einsetzende Kaffeegeplauder. Uns folgen lediglich noch ein paar argwöhnische Blicke von Gästen, die Sorge vor einer erneuten Störung haben. Doch auch die Misstrauischsten unter ihnen stimmen bald wieder ins allgemeine Gemurmel ein. Glücklich über den glimpflichen Ausgang dieser Episode, freuen wir uns über unsere eigene, wiedergewonnene Freiheit auf dem kleinen Stück Party-Strand. Zwischen Sonnenschirmen und Liegestühlen bereiten wir uns auf die Weiterfahrt vor. Noch bevor die Sonne rechts hinter dem Kirchenbau versinkt, können wir wieder ablegen. Den Tag und das Stadtleben lassen wir auf dem Wasser ausklingen. So wie wir gekommen sind, verschwinden wir wieder. Leise und unbemerkt reisen wir weiter. Über etliche Untiefen schrammend, treibt unser kleines, grünes Boot aus Görlitz hinaus.

Unter argwöhnischen Blicken

Wir sind erst wenige Kilometer aus der Stadt hinaus und die Sonne steht schon tief, als wir unerwartet auf ein sechstes Wehr an diesem Tag stoßen. Erstmals wird hier der Fluss für ein deutsches Wasserkraftwerk angestaut. Das ist durchaus selten. Doch auch ein Wasserkraftwerk auf deutscher Seite macht dem Paddler Arbeit, und so ist wieder, ähnlich wie am Vorabend, zum Tagesausklang unsere Initiative gefordert. Darin sind wir nun bereits geübt und lassen uns nicht weiter von einem verbauten Ufer aufhalten. Unter den argwöhnischen Blicken einiger Angler tragen wir das Boot über eine Schutthalde ans untere Ufer hinter dem Wehr. Mehr als ein paar rot in der Abendsonne leuchtende Ziegel und das Generatorenhäuschen sind von der Zivilisation hier draußen nicht geblieben. Wir verschwinden im dämmrigen Zwielicht der engen Flussmäander und lassen die mürrischen Angler zurück.

Ein Zelt, ein Thron

Nach einer kurzen Fahrt finden wir hinter einer Flussbiegung unseren heutigen Lagerplatz direkt an einer ausgedehnten Schotterbank. Wir ziehen das Boot auf die hellen, blankgewaschenen Kiesel. Auf einer weithin gemähten Wiese hinter dem Fluss ziehen die letzten Sonnenstrahlen über die freie Flur. In der Nähe schimmern die Gebäude einer kleinen Siedlung am Rande der Neißeniederung. Unser Zelt stellen wir entgegen unserer Gewohnheit diesmal oben auf der höhergelegenen Uferböschung auf. Das diesig-schwüle Wetter an diesem Abend und die Erfahrungen der letzten Nacht haben unser Misstrauen gegen Schlafplätze im Flussbett geweckt. Das Boot lassen wir jedoch unten auf dem Schotter liegen und vertäuen es sorgfältig am Zelt, das fast majestätisch über der Flussbiegung thront.

Abendliche Rituale

Das nahende Gewitter kann uns nicht vom obligatorischen Abendbad abhalten. Als wir uns schon wieder abtrocknen, kommt ein mittelgroßer Hund aus dem Dorf herangetrottet. Ohne weiter Notiz von uns zu nehmen, läuft er an uns vorbei und springt ins Wasser. Wir wundern uns noch darüber, als kurz darauf am Ufer ein Junge erscheint, der offensichtlich zum Hund gehört. Das Tier schwimmt unterdessen mehrmals seine Bahnen von einem Ufer zum anderen und ist ganz ins Baden vertieft. Der routinierte Ablauf des Ganzen unter der Obhut seines Herrchens lässt erahnen, dass es sich hierbei um ein allabendliches Ritual handelt, bei dem unsere Anwesenheit heute die einzige Abweichung ist. Da wir den Ablauf jedoch nicht sonderlich behindern, scheinen wir dem wortlosen Jungen nicht weiter aufzufallen.

Gefühl eines Fazits

Wieder alleine, halten wir neben unserem Zelt das Abendessen ab. Die Kost fällt heute bescheidener als sonst aus – es gibt Suppe und Schokoriegel. Für einen größeren Aufwand sind wir an diesem Abend zu erschöpft. Wir fühlen die Anstrengungen eines erlebnisreichen Tages und von sechs Wehren in unseren Knochen. Aber noch etwas anderes macht uns schläfrig: Der weiche, grasbewachsene Boden unter unseren Füssen fühlt sich so unendlich anders an, als das schroffe Land hinter uns. Auf dem samtigen Untergrund spüren wir plötzlich die spitzen Steine und den harten Boden der zurückliegenden Strecke, die wie ein nachlassender Phantomschmerz von uns abfallen. Jeder gemachte Schritt hat sich auf unseren Fußsohlen eingebrannt. Mit unseren nackten Füssen haben wir ein Land bereist und intensiver erfühlt, als wir das je zuvor getan hatten. Dieser letzte Abend ist das Gefühl eines Fazits. Alles was jetzt noch vor uns liegt, scheint nicht mehr als ein Heimspiel zu sein, ein letzter Akt, den man nur noch so durchspielt, bevor es wieder nach Hause geht.

Wind streichelt übers Zelt

Über uns hat sich ein grauer Nachthimmel ausgebreitet und um uns herum setzt sich die drückende Abendschwüle, die immer öfter von einer frischen Brise aufgelockert wird. Noch ein Bier, dann soll Schluss für heute sein. Schnell noch Zähneputzen, dann umfallen und schlafen. Nun streicht nur noch der von weit her gekommene Wind übers Zelt und streichelt uns in tiefe Träume. Die Träume werden wirr und dann schreckt uns die Zeltdecke aus dem Schlaf, die unsere Nasen berührt, weil sie von fauchenden Windböen niedergedrückt wird. Wir sind für einen kurzen Moment orientierungslos und begreifen nicht, was um uns herum geschieht. Dann stolpert jemand von uns im Sturmgetöse raus ins weite Feld und sammelt schlaftrunken die lose herumliegenden Sachen ein. Am nächsten Morgen werden wir nicht mehr wissen, wer von uns so geistesgegenwärtig handelte, während der andere im Zelt weiterdöste und es damit am Boden hielt.

Sturm

Sturm am Rande einer weiten Wiese. Zwischen uns und den Naturgewalten nur die flatternde Zelthaut, die sich schützend wie ein zartes Negligé über uns windet und biegt. Wir sind zu müde und schlafen trotz des Wetterschauspiels sofort wieder ein. Im Erschöpfungsschlaf wird jeder Sturm leise.

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Diese Reportage von Anfang an lesen? Hier geht’s zu: Hart an der Grenze, Tag 1

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