Reportage: Schlesische Abenteuer, Tag 7

Als Wehrwolf auf dem Bober: Die Pforte

Die Sonne lässt sich an diesem Morgen noch etwas bitten. Wir sitzen schon eine Weile beim Frühstück im taunassen Gras, als die ersten Strahlen über die Baumkronen hinwegstreichen und warm den Boden berühren. Um unser Zeitfenster nicht weiter zu strapazieren, packen wir heute nass ein und legen bald ab.

Ausstiege

Auf dem Wasser herrscht bereits eine schattenlos sonnige Idylle und wir können bald unsere Jacken, die wir wegen der Morgenkühle noch anhatten, ausziehen und hinter die Sitze stopfen. Die langen Hosen haben wir bereits vor dem Ablegen ausgezogen, weil wir wissen, dass auch heute der nächste Ausstieg sicher nicht lange auf sich warten lassen würde.

Hindernisparcours für Binsenbummler

Und richtig: Hinter der nächsten Flussbiegung setzt sich der Hindernisparcours von gestern fort. Weiterhin im Abstand von 500 Metern folgt eine Staustufe nach der anderen. Neu ist heute, dass sie auch aus betonierten Barrieren bestehen, auf denen das Laufen und Übertragen so komfortabel wie an einem nicht-polnischen Fußgängerüberweg vonstatten geht. An jenen Stellen fühlen wir uns immer ein bisschen wie Mecklenburger Binsenbummler, für die bei jedem Landgang schon alles vorbereitet ist. Mit derartigen Annehmlichkeiten haben wir nicht gerechnet. Die algenbewachsenen Stufen nötigen uns zwar zur Vorsicht, weil sie nicht rutschfest sind, aber mit den schweren Booten geht es auf dem glitschigen Untergrund umso bequemer abwärts.

Boot trifft Fahrrad

Wir sind gerade auf einer dieser Staustufen ins Umtragen vertieft, da werden wir plötzlich Zeugen von etwas Sonderbarem: Querverkehr. Wir trauen unseren Augen kaum, doch es ist so: „Boot trifft Fahrrad“. Zwei Radfahrer fahren knapp an der Sturzkante entlang und überqueren dabei trockenen Fußes den Fluss. Wir gewähren verdutzt Vorfahrt und staunen über die artistische Sicherheit, mit der die Radfahrer in graziler Seiltänzer-Manier auf dünnen Reifen von einem Ufer zum anderen balancieren, ohne dabei auf dem glitschigen Algenteppich wegzurutschen. Sie können hier besser fahren, als wir laufen.

Furten

Zwar haben wir immer wieder kleinere Ortschaften in der Nähe des Flusses bemerkt, aber uns ist nicht aufgefallen, dass wir schon seit geraumer Zeit keine Brücke mehr unterquert haben. Hier im Auwald hat man eine ökonomischere Lösung dafür gefunden, wie wir erst in diesem Augenblick erkennen. Jede Staustufe ist gleichzeitig eine Furt, die je nach Jahreszeit und Wasserstand benutzt werden kann. Erst jetzt fällt uns auf, dass der breite Mittelteil der Stufe und die abgeflachte Böschung auf beiden Seiten des Ufers genügend Raum bietet, den Fluss mit Traktoren oder auch einem Fiat-Polski zu überqueren. Uns kann das nur recht sein, denn am unteren Ende einer jeden Furt können wir bequem von der Betonkante oder einer angespülten Sandbank ablegen.

Staustufen

Ab und zu kommt es vor, dass zwischen zwei Betonfurten auch noch eine hölzerne Staustufe auftritt. Bei denen sind die Holzbohlen aber meist schon so brüchig, dass wir einen schmalen Durchlass finden können; und wenn der einmal sehr eng ist, dann sitzen wir mit unseren Booten so lange dort fest, bis sich genug Wasser hinter uns angestaut hat, um uns mitsamt den Booten durchzudrücken. So kommen wir gut voran und bekommen jede Menge Abwechslung geboten.

Siesta mit lauter Musik

Eine zeitlang ist der Fluss und die Umgebung ungewohnt belebt. Wir treffen auf Ausflügler mit Hunden und ein in die Jahre gekommenes angelndes Ehepaar mit Lagerfeuer am Ufer. Wir überraschen campende Sportwagenfahrer bei ihrer Siesta mit lauter Musik und an den Furten begegnen wir noch einige Male Radfahrern. Eine Stunde später sind wir wieder allein mit einer alles dominierenden Stille, die nur einmal sanft von einem Fischotter unterbrochen wird, der sich vor uns mit leisem Geräusch ins Wasser gleiten lässt. Gleich darauf ist er weg und wir sehen nichts weiter als unruhige Wellen auf der Wasseroberfläche, die noch etwas nachschaukeln.

Die eine Hälfte der Zeit verbringen wir in den Booten und die andere auf den Staumauern. Dabei kommen wir zur frühen Nachmittagszeit einem weithin sichtbaren Höhenzug am Horizont näher. Er ist blassgrün und von brachliegenden Wiesen und Feldern bedeckt. Die Sonne spielt darauf mit Licht und Schatten.

Abschied vom Auwald

Bald darauf erreichen wir die ausgedehnte Anhöhe und der Fluss drückt sich mit einer ausschweifenden Linkskurve dicht an den Hang heran. Auf einer breiten Wasserfläche wandern wir nun dicht neben dem Berg entlang, an dessen Fuße sich Bäume aneinander reihen. Dahinter vermuten wir den Staussee vor Krossen und das Odertal. Der Fluss, wenn auch wasserarm, hat jetzt wieder annähernd das Angesicht eines Stroms. Nur ein paar Stauwerke reichen noch über die gesamte Flussbreite; später sind es nur noch Überbleibsel alter Staustufen, die einen beschleunigten Durchlass erzeugen. Der Berg neben uns schrumpft allmählich zu einem Hügel zusammen. Es ist an der Zeit sich vom Auwald zu verabschieden, der uns am linken Ufer noch ein Stück weit begleitet.

Dorfbesuch

An der Kuhweide eines nahen Dorfes legen wir eine Mittagspause ein. Diese Gelegenheit nutze ich, um meine gestrige Absicht heute zur Tat werden zu lassen, und mache mich mit unseren wenigen Zlotys auf, einen Laden zu suchen. Ich erreiche das Dorf über einen schmalen Pfad, der zwischen zwei Gartenzäunen auf eine unbefestigte Straße führt. Als ich sie betrete und mich umschaue, scheint das kleine Dorf menschenleer zu sein. Alles ist still und niemand ist zu sehen.

Wegweiser

Am Ende der Straße, sie ist dort tatsächlich zu Ende, steht ein frischgeweißtes Gutshaus. Also entscheide ich mich dafür, in die andere Richtung zu gehen. Nach hundert Metern erreiche ich eine asphaltierte Straße, die in beiden Richtungen zum Dorf hinausführt. Ich gehe ein kurzes Stück gen Osten, besinne mich aber kurz darauf und laufe zurück zu einem alten Ahornbaum, der an der Wegeskreuzung steht. Ein altes Schild dort hat mein Interesse erweckt, welches ich beim Vorbeigehen nur flüchtig wahrgenommen habe. Erst jetzt beim Zurückblicken scheint es mir doch wichtig zu sein. Nachdem ich mich unter den schattigen Baum gestellt habe, kann ich in seinem Blätterdach den Hinweis „Sklep“ erkennen, der in Polen für gewöhnlich auf einen Laden hindeutet. Ein Pfeil weist in die Straße, aus der ich eben gekommen bin.

Sklep

Beim Zurückgehen erinnere ich mich daran, dass ich vorhin zwei biertrinkende Männer auf einer Veranda vor einem unscheinbaren Backsteinhaus gesehen habe. Dort gehe ich jetzt hin und steige die Treppen zum Hauseingang empor. Die beiden Männer sitzen noch immer auf der kleinen Bank und bemühen sich darum, mich mit keinem Blick zu beachten. Wie allein stehe ich vor dem Hauseingang und kann nichts entdecken, was auf einen Laden schließen ließe. Es flattern die Streifen eines Insektenschutzes vor der Tür. Sie sind bunt und schmierig. Ich schiebe sie zur Seite und trete ein. Im Schummerlicht erkenne ich einen engen Raum mit einer Ladentheke. Eine Frau mittleren Alters steht dahinter und mustert mich mit kritischem Blick. Ihre Gesichtszüge verraten noch etwas von der jugendlichen Schönheit, die sie mit Schminke festzuhalten versucht. Aber ihr Gesicht hat schon verhärmte Züge angenommen und die Unbekümmertheit der Jugend ist aus ihrem Antlitz gewichen.

Begegnung mit einem Fremden

Hinter der Frau ragen Regale bis zur Decke hinauf, an der unzählige Fliegen wie bewegliche, schwarze Flecken umher sirren. In den Regalfächern stauen sich bergeweise bunte Verpackungen von Schokoriegeln, Waffeln und Bonbons. Der Raum wirkt angesichts der Fülle mehr hoch als breit. Demütig bitte ich um Brot, Milch, Kakao und Bier, bezahle mit der Landeswährung aus meinem kleinen Portemonnaie und verabschiede mich schnell wieder. Beim Hinausgehen scheint es mir so, als wäre die Frau hinter der Ladentheke verwundert. Diese Begegnung mit einem Fremden ist ihr vielleicht nicht geheuer, oder vielleicht erinnert sie sich auch wieder daran, dass sie einmal in einer großen Stadt unter Fremden leben wollte, stattdessen aber jetzt diesen Dorfladen mit den Männern auf der Treppe führt.

Der Weg führt mich zwischen Gartenzäunen zurück ins freie Feld. Ein Hobbygärtner am Wegesrand nimmt nicht weiter Notiz von mir – trotz aller Abgeschiedenheit scheint man hier nicht sonderlich beeindruckt von landstreichenden Gestalten zu sein, die plötzlich übers Feld kommen und ebenso schnell wieder dort verschwinden.

Ich schlendere noch um ein paar Sumpflöcher herum und stehe wieder am Fluss. Auch heute werde ich wieder mit einem fertigen Mittagsmahl aus der Dose empfangen. Trotzdem ist die Freude über frische Milch und die extragroße Vorratspackung Kakao groß und alles wird sogleich als willkommene Abwechslung ins Nahrungssortiment aufgenommen.

Freier Himmel

Flussabwärts regiert nun freier Himmel. Der enge Auwald liegt hinter uns und die Wolkenfelder haben sich zunehmend aufgelockert. Als wir die Boote an der Kuhtränke zwischen ein paar Felsen wieder ins Wasser schieben und ablegen, kommt die Sonne hervor, um für den weiteren Tag zu bleiben. Die nächste Flussbiegung führt in einem weiten Bogen um den Bergrücken herum, so dass wir den Auwald endgültig aus den Augen verlieren. Wir gleiten an den sanft aufsteigenden Flächen entlang und erkennen, dass das eben besuchte Dorf viel größer ist, als wir zuvor angenommen haben. Es folgt der Biegung in sanfter Hanglage.

Vermodertes Holz

Davon hatte ich auch bei meinem kurzen Einkaufsbesuch nichts geahnt, als ich auf stillen Sandwegen stand und das Dorfleben um mich herum schlummerte. Wir erreichen eine langgezogene Gerade, mit der sich der Fluss noch immer am Berghang entlang drückt. Links davon erstreckt sich zunehmend ebenes Land. Die letzten Staustufen sind nichts weiter als vermoderte Holzbarrieren, von denen uns jede einen Durchlass bietet. So kommen wir schnell voran. An den Ufern prangt ein letztes Mal der Hopfen mit prallen Dolden an den Bäumen.

Die letzte Staustufe

Wir erreichen die letzte Staustufe – Es ist die Sechszehnte des Tages, und sie ist eine Baustelle. Der Flusslauf ist mit Geröll- und Schutthaufen abgeriegelt und gibt ein trauriges Bild ab. Nach mehr als 35 Staustufen haben wir unsere Boote nun erstmals über ein Gewirr von Betonrudimenten und halbfertigen Stahlgeflechten zu hieven. Während der zeitaufwändigen Prozedur klappert über unseren Köpfen ein ungewohnt belebter Verkehr von Fahrrädern und Kleintransportern auf den leichten Brettern einer hölzernen Behelfsbrücke, die wenig vertrauenserweckend aussieht.

Am Ausgang des Auwalds

Wir sind froh darüber, dass heute Wochenende ist und nicht gebaut wird. Angesichts des wüsten Umfelds muss es hier erst gestern noch sehr viel lauter und ungemütlicher zugegangen sein. Trotzdem sind wir enttäuscht, denn wie es gestern Mittag am Kanalabzweig begonnen hatte, so trostlos endet es auch hier am Ausgang des Auwalds. Der Mensch maßt sich an, den Fluss zu beherrschen, einzuengen und zu kontrollieren, indem er ihm Unrat in die lebendige Mitte schüttet. Dabei könnte der jederzeit wieder aufstehen und neue Hochwasser heranschieben und alles fortspülen, wie zuletzt vor drei Wochen.

 

Ein alter, von der Zivilisation bedrängter Fluss liegt hinter uns. Vor uns breitet sich ein neues Bild aus. Der Bober entfaltet noch einmal seine ganze majestätische Größe. Er ist jetzt breit und glatt wie ein Strom, und alte Weiden ragen von seinen wurzelgesäumten Ufern ins Wasser.

Leblose Fassade

Wir bewegen uns in einer gewaltigen Flussrinne, die scheinbar strömungsfrei ist. Wir paddeln an den Wasserkraftwerksanlagen vorbei, die das Wasser links in den Fluss einspeisen, das sie zuvor dem Auwald geraubt haben. Das Kraftwerksgebäude ist groß und wirkt mit seinen hohen Fenstern kalt und überdimensioniert. Es ist ein typischer Bau der fortgeschrittenen Industrialisierung, der mit seinen glatten Backsteinwänden und der strengen Fugenstruktur in einer leblosen Fassade steckt.

Neue Brücken

Wir wenden den Blick nach vorne und erreichen eine große, neue Straßenbrücke, die den Beginn des Stausees markiert, der sich vor uns in einem breiten, herabsteigenden Tal ausbreitet. Am Horizont sind bereits die Höhen des Odertals bei Krossen zu erkennen, die sich dem Boberlauf entgegenstellen und sein Ende ankündigen. Uns weht eine leichte Brise um die Nase und das Wasser türmt sich zu kleinen Wellen auf. Es riecht frisch nach Feldern und Landwirtschaft, obschon die Ufer auf beiden Seiten schon weit zurückgewichen sind.

Ein verwegener Plan

Auf der weiten Wasserfläche vor uns sehen wir etwas Dunkles schwimmen. Es kann kein Treibholz sein, denn der Fleck bewegt sich vorwärts. Wir paddeln näher und erkennen einen Mink, der sich hektisch darum bemüht, uns davonzuschwimmen. Er schaut ängstlich zu unseren Booten. In seinen Augen ist Panik zu lesen und er versucht sich mit schnellem Strampeln vor uns zu retten. Aber er hat Glück, denn Mink gehört nicht auf unsere Speisekarte. Wir drehen bei und lassen ihn ziehen. Er wird schnell wieder zu dem dunklen, unscheinbaren Flecken auf dem Wasser, wie er sich das wohl auch vorgestellt hatte, als er sich an diesem Nachmittag zu dem verwegenen Plan hinreißen ließ, über den See zu schwimmen. Er wird wohl seine Gründe für diesen Wagemut haben und hätte sich wahrscheinlich nicht weniger über uns gewundert, wenn er erfahren hätte, was wir schon seit einer Woche auf dem Bober treiben.

Eingedeicht

Am unteren Ende des Sees pellt sich ein weiterer Industriebau aus dem Dunst. Es ist das letzte Wasserkraftwerk am Bober, wo der Mensch noch einmal den Fluss in einem gewaltigen Kraftakt durch Turbinen drängt. Zu diesem Zweck hat er diesen Staussee inmitten von Feldern angelegt. Die Ufer sind eingedeicht und sehen wenig spektakulär aus. Dahinter erstrecken sich weite Felder und die Stahlskelette alter Überlandleitungen führen darüber hinweg in die Ferne.

Die letzten Meter

Am halbrundförmigen Ende des Sees befindet sich die Wehrmauer. Wir legen rechts vom Durchlass an und steigen auf einen Erdwall. Dahinter liegt unten im Tiefland des Oderstromtals wieder ein richtiger Fluss. Es sind die letzten Meter vor seiner Mündung, wo sich der Bober, begleitet von einem Weidenspalier, noch einmal von seiner schönsten Seite zeigt.

Beim Umtragen sind wir gezwungen, den steilen Abstieg über einen kleinen Bach zu nehmen. Beim Boottragen rutscht Mark auf den klitschigen Steinen aus und… er bleibt Bademeister!

Da können wir ihm gratulieren; vor allem, weil er sich im klobigen Bachbett nicht den Steiß verbogen hat, denn mit diesem spektakulären Sturz auf den letzten Metern vor der Mündung hat Mark zweifellos seinen riskantesten Stunt der Woche hingelegt.

Erkundungen

Wohlbehalten unten am Fluss angekommen, legen wir die Boote auf einem Feldweg ab. Im Alleingang unternehme ich eine kleine Erkundungstour stromabwärts, um in Erfahrung zu bringen, wie die Stromschnellen stromabwärts einzuschätzen sind, die schon mit furchteinflössendem Getöse auf sich aufmerksam machen. Sie sind so laut, dass ich erst einmal wenig Hoffnung habe. Mein Weg führt an ganzen Anglergemeinschaften vorbei und unter einer alten Eisenbahnbrücke hindurch. Das Land um mich herum ist wild, buschig und verwachsen.

Geheimnisse

Im glühenden Abendlicht entfaltet das Auenland einen Reiz, dem man sich kaum entziehen kann. Alles ist spannend und verwunschen. Jedes Ding scheint ein Geheimnis aufzubewahren. Weiter abgelegen, bemerke ich zahlreiche Jugendliche, die sich mit ihren Autos auf einer alten Betonfläche versammelt haben. Vermutlich sind das die alten Fundamente eines ehemaligen Stadtteils von Krossen, der durch Krieg und Zeit hier versunken ist. Als ich das begreife und um mich herum immer neue Bruchstücke einer vergangenen Siedlung zu erkennen meine, gesellt sich zum abendlichen Flussauenzauber noch eine unruhestiftende Neugier, wie sie vermutlich jene rastlose Archäologen befällt, die sich einer Entdeckung zufolge auf geschichtsträchtigem Boden wähnen.

Abendlichter

An den Sohlschwellen kann ich zu meiner Überraschung nichts Verdächtiges finden. Sie sind zwar schroff, aber scheinen befahrbar zu sein. Daher reift in mir der Entschluss zu einer letzten spektakulären Abfahrt vor der großen Ruhe des Oderflusses. Ich präge mir die verschiedenen Strömungsmuster ein. Wie abwesend kehre ich zurück. Ganz in mich gekehrt, bin ich auf dem Rückmarsch damit beschäftigt, kein Detail der Strömung zu vergessen. Die Angler wundern sich nun nicht mehr über mich. Sie angeln entweder weiter oder liebkosen ihre kleinen und großen Autos, mit denen sie scheinbar überall hinkommen. Das ist hier nicht anders als im übrigen Polen, wo die Menschen diese ganz besondere Art besitzen, mit ihren Fahrzeugen bis in den letzten Winkel der Natur vorzudringen. Aber sie lieben ihre Natur und ebenso wie ich verwunschene Flusslandschaften im Abendlicht.

Entscheidungen

Nach einer kurzen Besprechung entscheiden wir an Ort und Stelle einzusetzen und die vier Stromschnellen zu befahren. Sie sind alle vier sehr kabbelig und sehen wenig überschaubar aus, aber sie bilden nur an wenigen Stellen eine Walze. Wir besprechen kurz die Linie, die ich mir eingeprägt habe und vereinbaren, dass René und Mark mir im Zweier folgen. Ich würde ihnen gegebenenfalls die nötigen Handzeichen zuwerfen, um meine Linie für den Zweier zu korrigieren. Wir sind froh über diese Entscheidung und wollen nicht weiter über die Risiken dieser letzten Aktion nachdenken. Alle unsere Aufmerksamkeit richtet sich nur nach vorne flussabwärts. Unwiderstehlich lockt uns die Erwartung auf jenes erhebende Gefühl, dass wir mit diesem Wildwasser-Rodeo zum Abschied noch einmal etwas ganz Besonderes auf dem Bober erlebt haben, wenn wir heute Abend an der Mündung des Bobers lagern.

„An nichts mehr Denken“, sage ich zu mir selbst, als ich die Spritzdecke und das Obergepäck fest verzurrt habe und ablege. Ich taste mich zur ersten Kante vor, stoße das Paddel ins Wasser und schieße ins tosende Weiß hinab.

Nichts geht mehr

Die Angler stehen auf und schreien mir etwas zu. Ich verstehe sie nicht und ich deute es so, dass sie mir zujubeln. Kaum bin ich im Unterwasser wieder aufgetaucht, legen Mark und René ebenfalls ab. Jetzt ist es soweit: Der Zweier steht an der Kante und nichts geht mehr. Die Würfel sind gefallen, das Rad dreht sich. Jetzt sind wir alle auf Fahrt. Der massive Zweier plumpst mit ordentlicher Fahrt ins Unterwasser und läuft wie am ersten Tag gleich einer Dampfwalze vorwärts. Heute ist das gut so. Ich drehe den Einer mit dem Bug stromabwärts der nächsten Schwelle entgegen.

Weißes Wasser

René und Mark sind wohlauf und folgen mir mit knappen 50 Meter Abstand. Das ist nicht viel weniger als die Strecke bis zur nächsten Schwelle. Mit gebetsartigem Gemurmel und Beschwörungen meines Talismans, wie es in dieser zurückliegenden Woche meine Art geworden ist, stoße ich das Paddel ins Wasser und treibe das Boot voran. Kurz vor der Kante sehe ich nur noch diese kleine Gerade, die sich immer kurz vor dem Abgrund fast undurchsichtig über den Fluss spannt und das trügerische Bild einer fortführenden Wasserfläche schafft. Tatsächlich klafft an dieser Stelle aber ein erheblicher Höhenunterschied, und einen Augenblick später sehe ich das weiße Wasser unter mir und das Rauschen ist so nah wie nie zuvor. Ich bin nicht unruhiger als bei der ersten Schwelle, aber irgendetwas ist jetzt anders. Ich sehe kein Ufer mehr. Um mich herum ist nur noch Wasser. Ich ahne, dass ich mich ganz tief unten in einem Wellental befinde. Dann wird es still…

Wasser im Gesicht

Wie in Zeitlupe sehe ich die Wellen zweier Schweife, die sich vor mir zu einem hohen Kreuzwasser auftürmen. Eine Wasserwand steht vor dem Bug. Ich atme noch einmal tief ein und halte die Luft an. Einen Augenblick später bricht das Wasser tosend über mich herein und klatscht mir ins Gesicht. Erst jetzt bemerke ich, dass ich das Paddel reflexartig in die Höhe gerissen habe. Es ist vermutlich das Einzige in diesem Augenblick, was von mir über dem Wasser zu sehen ist. Als ich endlich zwischen den Wellen wieder die Umrisse des Ufers erkennen kann, orientiere ich mich neu und halte das Boot weiterhin auf Kurs. Die Wellen werden niedriger und ich beginne wie ein Berserker zu paddeln, um nicht in einen Rücksog zu geraten. Kurz darauf schaukelt sich das Boot auf kleinen Wellen aus. Ich bin tatsächlich durch. Ein Blick zurück und ich sehe zwei Paddel an ausgestreckten Armen, die über dem tosenden Wasser schweben. Kurz darauf sind auch Mark und René wieder zu sehen, und unter ihnen taucht der dicke Zweier wieder auf.

Halbzeit

Puh, Halbzeit! Wir sitzen alle noch in unseren Booten und der Bober schiebt uns mit aller Gewalt weiter. Meinen anfänglichen Hochmut nach der ersten Schwelle hat mir das zurückliegende Kreuzwasser-Ballet abgespült. Nun bin ich wieder verhältnismäßig beunruhigt, was mit den beiden kommenden Stromschnellen noch folgen wird. Doch der Bober hat den Schonwaschgang eingelegt. Die vorletzte Schwelle links unter der Eisenbahnbrücke hindurch, erwische ich einen weichen Schweif und dann kommt – plumps – die letzte Sohlschwelle und es ist vorbei. Der Bober hat noch einmal alles gegeben und verabschiedet uns mit einem ausklingenden Rauschen. Dieser letzte Eindruck macht unvergessen, was dieser Fluss wirklich ist – keines der vielen Wasserkraftwerke kann darüber hinwegtäuschen – der Bober ist ein wilder Fluss mit scharfen Krallen.

 

Schon längst ist der Bober unser Freund geworden. Sein austrudelndes Wasser trägt uns auf einen trägen Fluss hinaus. Jetzt können wir noch einmal den Ausblick genießen. Ringsumher ist das Ufer von hohen Weiden gesäumt, hinter denen flache Wiesen im letzten Sonnenlicht schimmern. Es hat sich bereits ein prächtiger Sommerabend entfaltet.

Die Silhouette von Krosno Odranzski

Nach einer sanft geschwungenen Rechtsbiegung erreicht der Bober seine Mündung. Rechts erstrahlt am jenseitigen Ufer der Oder an den Höhen eines aufsteigenden Bergrückens die Silhouette von Krosno Odranzski. Stromaufwärts führt noch immer die alte Straßenbrücke mit ihrer markanten Stahlkonstruktion über die Oder, wie sie bereits auf alten Ansichtskarten abgebildet ist. In der Flussniederung zwischen Oder und Bober hat sich die Natur hingegen das Meiste wieder zurückgeholt und auf alten Fundamentresten thront wildes Busch- und Strauchwerk.

Unter rosagetünchtem Abendhimmel

Von der schmalen Landzunge zwischen Bober und Oder aus fotografiere ich die Stadt unter rosagetünchtem Abendhimmel, während René und Mark am gegenüberliegenden Ufer das Lager herrichten. Wieder zurück im Lager, ist für mich nicht viel zu tun geblieben, doch weil das Grillfleisch aufgebraucht ist, wird mir bereitwillig die Verantwortung für das Abendessen übergeben. Mit zwei Kochern mache ich mich an die große Aufgabe und habe dabei Spaghetti mit Tomatensoße im Sinn.

In die Walachei springen

Trotz der aufwendigen Prozedur kann ich es mir angesichts des prächtigen Mondaufgangs nicht verkneifen, ab und zu für ein paar Fotos die behütete Kochstelle zu verlassen und in die Walachei zu springen. Erst als das Rumfingern am Auslöser im Finstern beinahe mit einem Sturz im Wasser endet, besinne ich mich meiner Kochakrobatik und kehre an den Herd zurück. Was ich schließlich serviere, ist eine breiähnliche Substanz aus zerkochten Nudeln. Aber es schmeckt trotzdem, und am Ende des Abends sitzen wir satt und zufrieden am Rande der Bobermündung und schauen grinsend auf die breite Oder.

Kontrastprogramm

Wir sind saufroh darüber, hier zu sein, und passend zu unserer Stimmung hat am gegenüberliegenden Ufer bereits eine Party begonnen. Nun hämmern derbe Euro-Dance-Beats über die Oder zu uns herüber und dazwischen heult eine euphorisierte Feiermeute mit immer neuen Jubelschreien auf. Das ist das denkbar schrillste Kontrastprogramm zur letzten Woche. Allerdings ist uns das – gelinde ausgedrückt – scheißegal, denn die Tatsache, dass wir die Oder tatsächlich erreicht haben, ist ein Triumph, den wir heute Abend voll auskosten.

Rheinische Oder

Wir sind am Rande jener Stadt angekommen, wo die Oder angeblich am rheinischsten ist. Letztes Jahr feierte Krosno Odranszki seine erste urkundliche Erwähnung vor tausend Jahren. Stromaufwärts in der Dunkelheit spannt sich die alte Stahlbrücke über den Fluss, die nun schon seit 101 Jahren das Wahrzeichen von Krossen ist. Ihre Lichter glänzen auf der Oder, wie sie es wahrscheinlich auch schon vor hundert Jahren getan haben. Vor uns im Dunkeln liegt die glatte Wasserfläche von Bober und Oder, jene Stelle der Vereinigung, von der der Literat Klabund einst schrieb, dass hier „die Zeit mündet in die Ewigkeit“. In der Flussebene ist an diesem Abend nichts davon zu spüren und erst gegen morgen hört die Musik auf zu wummern. Aber da schlafen wir schon tief und fest.

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