Reportage: Schlesische Abenteuer, Tag 3

Als Wehrwolf auf dem Bober: Der alte Mann und seine Stadt

Der Morgen ist kalt und klamm. Was sich nächtens schon angekündigt hatte, ist heute zugegen. Es weht ein bissiger Wind. Der Mond ist nur noch ein matter Fleck am Rande der Himmelsscheibe, über den weiße Wolkenfelder dahinrasen. Jetzt spüren wir die Ungemütlichkeit der Militärplatzatmosphäre, die sich gestern Abend noch hinter einer warmen Abendsonne versteckt hatte.

Wie alte Männer

Die schlaffe Luftmatratze macht es mir leicht, aufzustehen. Vom harten Boden gepiesackt, schäle ich mich aus dem warmen Schlafsack und ziehe mir die kalten Sachen über die frierende Haut. Als ich mich erhebe, spüre ich meine steifen Glieder vom gestrigen Tag und sofort fällt mir wieder ein, dass es immer so ist: Jedes Jahr nach dem ersten langen Tag auf dem Wasser schmerzen die Glieder wie die eines alten Mannes. Dann bemerke ich René und Mark, die ebenso steif und unbeholfen über die Heide stolpern. Unser morgendliches Befinden ist Grund genug, die Frühstückstoasts an einem wärmenden Feuer zuzubereiten. Erst nach reichlich Nutellatoasts und viel heißem Tee kommen wir wieder aus unserem Erdloch, um den Tag zu beginnen.

Heimliche Opfergaben

Wieder auf dem Platz, sortieren wir unser Gepäck und beladen die Boote. Die Stimmung ist an diesem Morgen ernster als gestern. Wir haben nun Klarheit darüber, wie es tatsächlich um das Reisen auf dem Bober steht. Wieder kann ich es mir nicht verkneifen, den letzten Schluck Frühstückstee heimlich dem Bober zu opfern. Als alles für die Weiterfahrt vorbereitet ist und wir die letzte Besprechung für den Tag abhalten, gibt es keine Spur von Euphorie und unsere Gesichter sehen mehr grübelnd als ungeduldig aus.

Die richtige Drift

Als wir ablegen, verfliegt die erste Anspannung schnell und löst sich in Routine auf. Obwohl uns der Fluss erneut mit ganzer Gewalt packt, haben sich unsere Glieder bald wieder soweit gelockert, dass wir die Paddel kräftig in die Strömung drücken können, um den Booten die richtige Drift zu geben. Das reicht auf Anhieb, um den Vormittag auf dem aufgewühlten Wasser bestehen zu können und jede Kurve und jedes Baumhindernis wohlbehalten hinter uns zu lassen. Nur einmal, bei einem stillen Dorf mit Holzbrücke, legen wir an, um das Fahrwasser zu prüfen.

Mittagsdunst

Auch heute wieder zur Mittagszeit wird der Bober ruhig und verliert sich in einem breiten und tiefen Flussbett. Eine hohe Eisenbahnbrücke markiert den Wendepunkt. Die Ufer weichen zurück und wir paddeln zum ersten Mal nebeneinander her. Wir genießen es, uns entspannt auf dem Wasser unterhalten zu können. Trotzdem ahnen wir angesichts des ruhigen Fahrwassers, dass Dinge zu erwarten sind, die unsere Fahrt stören würden. So ist es dann auch, und bald sehen wir ein Wehr, das sich vor uns aus dem Mittagsdunst schält.

Wir trennen uns, um die geeignete Flussseite zum Umtragen zu finden. René und Mark wählen das linke Ufer, während ich mir am rechten Ufer einen Überblick zu verschaffen suche.  Über einen morastigen Feldweg erreiche ich eine kleine Siedlung namens Lesno Gorny. Sie gehört zum Wehr und nimmt sich mehr wie ein Industriekomplex aus, als ein Dörfchen zu sein. Vermutlich gab es hier einmal eine Mühle, die den Grundstein für diese Siedlung legte.

Geisterstädtchen

Es ist nicht zu erkennen, ob hier Menschen zwischen den alten hohen Backsteinmauern der Fabrikgebäude leben; doch es sind undefinierbare Geräusche zu hören, die eine emsige Betriebsamkeit vorgeben. Das verleiht dem Ort etwas von einem verlassenen Geisterstädtchen. Abseits stehen zwei triste Wohnblocks mit vergilbter Fassade – anscheinend wird hier doch gewohnt.

Zäune

Auf den letzten Metern zum Wehr vernehme ich plötzlich menschliches Leben und Traktorengerassel. Das Wehrgelände ist jedoch unbewohnt und stellt sich als abweisender Komplex mit Einzäunung zum Schutz vor fremden Betreten vor. Auf der anderen Flussseite bei Mark und René scheint es kanutenfreundlicher zu sein. Sie winken mich hinüber und empfangen mich am gegenüberliegenden Ufer.

Hinter dem Erlenwald

Hinter einem schmalen Streifen morastigen Erlenwalds liegt ein schmaler Feldweg, auf dem wir unsere Boote platzieren und unser Gepäck versammeln. Der Weg führt nur wenige Meter parallel zum Fluss stromabwärts, bis er mit einer scharfen Linksbiegung ins Land hineinführt. Beiderseits des Weges reihen sich unzählige Kleingärten und Äcker aneinander. Der Bootswagen bewährt sich hier erstmals auf großer Strecke.

Durch die Gemüsegärten Polens

In Rotation ziehen wir die Boote durch die Gemüsegärten Polens, während abwechselnd einer von uns das Gepäck hinterher trägt. Dabei überholen uns mehrmals alte Männer auf alten Fahrrädern, denen wir verwundert nachschauen. Sie scheinen aus dem Nichts zu kommen und sind kurz darauf auch wieder dort verschwunden. Wir folgen einem unebenen Pfad, der nicht den Eindruck macht, dass es der richtige Weg für uns ist. Er führt vom Fluss weg, doch es ist der einzige Weg hier. Er ist zweispurig und muss manchmal von Autos befahren sein. Und tatsächlich treffen wir ein Auto, welches sich schnell davonmacht, als wir mit unseren Gerätschaften näherkommen. Danach sind wir wieder allein mit unseren Booten und nur manchmal blickt jemand von der Feldarbeit auf seinem Acker verstohlen zu uns hinüber.

Abschied von Lesno Gorny

Über einen Bogen landeinwärts haben wir bald wieder den Bober erreicht, der sich hinter dem Wehr als ein zwischen engen Ufern strömender Wiesenfluss zeigt. Geradeaus führt eine schmale Holzbrücke über das Wasser in die Geisterstadt. Ein alter Mann, wie wir ihn eben schon zwischen den Feldern getroffen hatten, schiebt sein beladenes Fahrrad über die Bretter. Wir bleiben am diesseitigen Ufer und folgen der Straße noch ein Stück entlang des Flusses. Etwas stromabwärts finden wir eine Einbuchtung, wo wir unsere Ausrüstung ohne halsbrecherische Akrobatik wieder zum Wasser hinunterschaffen können. Die Boote setzen wir im seichten Kehrwasser eines dicken umgestürzten Baumstammes ein. Vor dem Ablegen essen wir noch unsere letzten polnischen Brötchen mit Würstchen und Ketchup. Wir genießen die Windstille der Bucht, in der die Sonne wärmt, während über uns weiße Schäfchenwolken hinwegtreiben.

Wir stoßen uns mit einem kräftigen Tritt vom Ufer ab und das schnelle Wasser schiebt uns durch eine zerklüftete Landschaft, die überall von kargen Sanddünen übersäht ist. Der Pflanzenwuchs wirkt karg und nur der Hopfen hängt in üppigen Dolden von den Zweigen fetter Weiden. Das Land hat etwas von jener Leere, die zwar wenig Reize für ein sensationsverwöhntes Auge bieten kann, sich aber in vielen subtilen Details unvergessen macht. Alles erzählt von gestern und heute, von Natur und Mensch und vom flüchtigen Augenblick und der Ewigkeit der Dinge.

Staub

Schon liegt der Nachmittag träge auf dem Land, als der Fluss breiter wird und vor uns plötzlich ein dichter Schleier über dem Wasser schwebt und die Luft milchig trüb färbt. Zuerst meine ich, dass es sich um den Erntestaub eines nahen Getreidefelds handeln müsse. Doch dann schmecke ich mehligen Staub auf meiner Zunge. Es sind feine Sägespäne, die sich wie eine Decke auf uns und die Boote legen. Wir sind bereits tief in diese Wolke hineingeraten und um uns herum bildet das Sägemehl einen schwimmenden Teppich, der das Wasser wie eine zähflüssige Substanz aussehen lässt. Die Sonne trifft nur noch mit einem spärlichen Restlicht auf die Erde, das die Landschaft in eine mystische Atmosphäre taucht. Es scheint, als sind uns die Geister aus Lesny Gorny gefolgt.

Schlamm

Noch rechtzeitig bemerken wir eine Schwelle vor uns. Wir sehen sie nicht, aber ihr Rauschen verrät, dass sie über die gesamte Flussbreite reicht. Wir teilen uns auf, um beide Flussufer für einen geeigneten Ausstieg abzusuchen, denn die Sicht ist zu kurz, um aus sicherem Abstand etwas erkennen zu können. Wieder wähle ich das denkbar ungeeignetste Ufer, und René und Mark legen etwas weiter oberhalb am rechten Ufer an, wo sie eine steile Böschung hinaufklettern. Ich hingegen wate in einem sumpfigen Sand-Schlamm-Gemisch, wo ich kritische Stellen vor mir nie bemerke, weil unter dem feinen Sägemehlmantel alles gleich aussieht.

Verdeckte Ermittlung

Immer wieder versinke ich bis zu den Knien und ziehe ein Bein nach dem anderen mit einem lauten Schmatzgeräusch aus dem Schlamm. Ich würde vermutlich ein klägliches Bild abgeben, wenn man mich vom gegenüberliegenden Ufer aus hätte beobachten können – diesbezüglich bietet mir der Mehlschleier einen unübertrefflichen Vorteil. Die Schwelle kann ich an diesem Ufer jedoch nicht erreichen. Auch der breite Schilfgürtel zum Ufer bleibt undurchdringlich, so dass ich bald aufgebe und zu den anderen hinüberpaddele.

Friedliche Natur

Dort betrachten René und Mark bereits die Schwelle, an welcher der Fluss aufgestaut wird und über aufgetürmte Felsblöcke nach unten stürzt. Es handelt sich um ein künstlich angelegtes Stauwerk, das uns bei diesem Wasserstand kein Passieren erlaubt. Es sieht so aus, als führe der Fluss zuwenig Wasser, doch weiter stromabwärts sammelt sich das Wasser wieder und schießt mit einschüchternder Kraft ins Land hinein. Am Rande der breiten Schwelle ist jedoch nur ein leichtes Plätschern vernehmbar. Daher wagen wir es mit den Booten bis zur Sturzkante vorzufahren, was wir aber nicht ohne Sicherung per Bootsleine tun. Direkt hinter der Schwelle können wir die Boote wieder einsetzen. Dafür müssen wir nur einen Angler aus einer komfortablen Kiesbucht vertreiben. Zuerst sind wir etwas unsicher, als uns der kräftig gebaute Kerl fragend anschaut, doch dann gibt er sich als eine friedliche Natur zu erkennen, rückt beiseite und lässt uns passieren.

Schnell sind wir wieder seetüchtig. Die Dunstwolke des Sägewerks liegt nun hinter uns und vor uns breitet sich eine heimlich schöne Landschaft aus. Sie ist, hat man sich erst einmal einen Blick für sie angewöhnt, überall hinter den hohen, vom Gras flankierten Ufern zu erkennen – Eine, nur auf den ersten Blick trostlose Heideszenerie und dazwischen versteckte Giebel und Dächer naher Dörfer; und immer wieder Bäume: alte und junge, alleinstehend oder als Gruppe.

Bildwechsel

Das Bild wechselt unerwartet. Der Fluss wird ruhig und massive Steinschüttungen als Uferbefestigung verleihen dem Bober etwas Kanalartiges. Dazu tritt ein Wald bis nahe ans rechte Ufer heran und begleitet uns durch eine langgezogene Linkskurve. Hinter der Kurve ziehen sich die Bäume zurück und Stadtgeräusche von Hektik und Unruhe dringen über kahle Wiesen zu uns herüber. Das haben wir eigentlich schon lange erwartet, denn laut Karte liegt dort die Stadt Szprotawa, wo sich der Fluss in einer entscheidenden Biegung nach Westen wendet. Wir paddeln direkt auf die blendende Abendsonne zu und aus dem gleißenden Licht tritt deutlich eine Stadt hervor, die sich zum größten Teil rechts des Flusses ausdehnt. Motorenlärm und Stimmengewirr werden deutlicher. Vom alten Sprottau ist nichts zu sehen und dort, wo sich eine weitläufige Wiese an den Ufern erstreckt, ist das Stadtgebiet von öden Plattenbauten flankiert, deren graue Wände das Innere abschirmen.

Fußnote

Der ehemalige Flusslauf des Bobers ist nur noch eine Fußnote im Stadtgefüge. Das heutige Szprotawa hat ein großes Wehr, das uns am Stadteingang empfängt. Die Fahrt ist hier vorerst zu Ende, aber die grüne Wiese am Stadtrand ermöglicht uns ein bequemes Anlanden. Zum Umtragen wählen wir den Weg über das Gelände zwischen Bober und einem abgeriegelten Nebenlauf, der vermutlich einmal der alte Hauptflusslauf des Bober war und mitten durch die Stadt führte. Heute ist der Fluss aus der Stadt verbannt und das Wasser wird am Stadtrand entlanggeleitet, wo es sich bei Hochwassern besser regulieren lässt.

Kalkulationen

Die Situation vor Ort macht uns zögerlich. Eigentlich wollen wir Szprotawa heute noch hinter uns bringen, da sonst unsere Streckenkalkulation nicht mehr aufgeht. Doch andererseits senkt sich die Sonne bereits deutlich dem Horizont entgegen und wir fürchten, dass noch ein weiteres Wehr im Stadtgebiet folgen könnte. Der damit verbundene Zeitaufwand würde uns soweit zurückwerfen, dass uns die Dunkelheit mitten in der Stadt einholen würde. Für diesen Fall wäre es besser, den nächsten Morgen auf dieser Wiese hier abzuwarten, die durch ihre inselartige Beschaffenheit die Stadt wenigstens pro forma eine Nacht lang von uns fernhalten konnte – auch wenn sie ganz real vorhanden ist und deutlich zu uns herüberlärmt.

Freundliche Blicke

Ein älterer Herr in feinem Zwirn und mit Hut soll uns bei der Entscheidungsfindung behilflich sein. Sorgfältig gekleidet und in der Abendsonne sinnend, sitzt er auf einer Bank am Rande der Wiese, als wir ihm auf dem Weg zum Wehr begegnen. Da er uns und unsere Ausrüstung bereits beim Näherkommen mit freundlichen Blicken musterte, wagen wir es, ihn mit Händen und Füßen und etwas Polnisch zu fragen, ob flussabwärts in der Stadt noch ein weiteres Wehr existiere. Ohne weiter zu überlegen verneint er sofort. Auch auf mehrmaliges Nachfragen schüttelt er immer wieder vehement mit dem Kopf. Das überzeugt uns und wir meinen, dass er Recht haben müsse.

Rückblick

Beim Abschied schaut er uns halb träumend und halb traurig nach. Vielleicht erinnert er sich plötzlich an etwas weit Zurückliegendes. In seinen Augen ist zu lesen, dass er schon lange hier ist und die alte Stadt aus einer Zeit kennt, als er selbst noch jung war und zu den Wandernden gehörte. Heute sind wir es, die wandern, und der alte Herr sitzt auf einer Bank am Ufer des Flusses und genießt den Abend.

Die Sonne steht schon tief und wir beeilen uns dabei, unterhalb des Wehrs an einer Treppe einzusetzen. Das Hochwasser der vergangenen Wochen hat große Löcher in die Böschung gefressen.

Backstein und rostiges Metall

Endlich wieder auf dem Wasser, treiben wir am Stadtrand entlang und sehen die alten Häuser und Fassaden aus einer früheren Zeit, die zuvor hinter den klobigen Bauten der Neuzeit nicht zu erkennen waren. Am unteren Ende der Stadt säumen alte Fabrikhallen die Ufer, wie man sie in fast jeder größeren Stadt Mitteleuropas noch vorfinden kann. Meist sind es ungeliebte Industriebrachen, die sich mit ihrem rohen Charakter erfolgreich gegen eine neuzeitliche Übernahme wehren konnten. Wie zum Beweis der Existenz dieses Ortes stößt zwischen Backstein und rostigem Metall von rechts unerwartet der namensgebende Fluss hervor und prägt das Bild einer Stadt, die es schon lange hier gibt: Sprottau wie Szprotawa liegen dort, wo die Sprotte in den Bober mündet – und sonst nichts.

Ein schöner Abend

Als wir die Stadt verlassen, sind wir froh darüber, dass der ältere Herr Recht behalten hat. Zu sehr hätte zum Industriegebiet des alten Sprottaus ein Wehr gepasst, doch es kommt tatsächlich keines. Stattdessen empfängt uns die Natur hinter den letzten verwaisten Industriehallen mit mehreren spritzigen Sohlschwellen. Das passt gut zu diesem schönen Abend. Wir haben Lust auf Erlebnisse und halten uns auf der Actionline. Als sich der Fluss beruhigt, spiegeln sich Bäume im Wasser, über deren Konterfei wir in die Stille des Sommerabends hinausgleiten. In der Nähe ziehen sich noch ein paar Gebäude am Fluss entlang, so dass wir unsicher werden, ob die Stadt wirklich bereits hinter uns liegt. Bald aber folgt menschenleere Wildnis und mit ihr die Gewissheit, dass Szprotawa nun tatsächlich hinter uns liegt und wir eine wichtige Etappe in dieser Woche geschafft haben. Ab jetzt ist wieder alles möglich und wir können auf der Landkarte hoffnungsvolle Pläne für die nächsten Tage schmieden.

Rauschen im Abendrot

Für heute gilt es, einen geeigneten Schlafplatz zu finden. Doch stattdessen taucht am unteren Ende einer Flussbiegung ein rätselhaftes Bauwerk auf, das sich quer über den Fluss erstreckt und hell im Abendrot leuchtet. Wir lassen uns vorsichtig herantreiben, können aber nicht erkennen, was dieses kräftige Rauschen verursacht, das immer lauter und deutlicher hörbar wird, so dass wir schnell anlegen. Wir vertäuen die Boote am steilen Ufern unter ein paar Weiden. Ungeduldig und voller Spannung laufen wir dem mysteriösen Rauschen entgegen.

Nicht mehr Szprotawa

Ein altes rostiges Turbinenrad am Wegesrand, fast so hoch wie wir selbst, weist uns den Weg durch brennnesselüberwuchertes Dickicht. Darin finden wir die Überreste eines alten Wasserkraftwerks, das zu einem abgelegenen Dorf gehört, das wir erst jetzt wahrnehmen. Es liegt links von uns auf einem Feld, ist klein und leise, und gehört nicht mehr zu Szprotawa – soviel ist klar. Was aber der alte klobige Betonbau im Flussbett zu bedeuten hat, dass müssen wir jetzt schleunigst herausfinden, denn bald wird es dunkel sein.

Das Kraftwerk ist schon lange nicht mehr in Betrieb. Trockene Turbinenkammern schlummern in einem versumpften Nebenarm des Bobers. Wir klettern und hüpfen über die klobigen Betonbrocken. Der raue Untergrund ist noch warm von der Tagessonne und tut unseren Füßen gut.

In schummriger Tiefe

In der schummrigen Tiefe der Schächte stecken weitere Turbinenräder, die schon lange kein Wasser mehr bewegt hat. Die ganze Anlage liegt wie verwunschen in einem Dornröschenschlaf. Dahinter, über eine hohe Betonkante hinwegschauend, erblicken wir den Fluss. Sein gesamtes Wasser wird unter lautstarkem Gurgeln und Rauschen zwischen zwei Betonpfeilern hindurchgepresst.

Nervös und verschnürt

Das aufgeschäumte Wasser gibt uns viel Anlass zu Spekulationen, doch schließlich entscheiden wir uns wegen der knappen Zeit für einen Befahrungsversuch, denn die Sonne berührt nun schon fast den Horizont. Zurück bei den Booten, bereiten wir uns auf die Durchfahrt vor. Wir sind nervös und ziehen unsere Spritzdecken mit besonderer Sorgfalt auf. Als ich verschnürt wie ein Paket im Einer sitze, lege ich ab. In diesem Moment bin ich mir nicht sicher, ob der Erste zu sein ein Nachteil ist, oder ob es einfach nur gut ist, es bald hinter sich zu haben.

An nichts mehr denken

Mit korrigierenden Paddelschlägen treibe ich auf die unheimliche Engstelle zu. Das Tosen wird lauter und ich werde merklich wie von einem Schlund angezogen. Ich spüre, wie das Nachdenken in mir aussetzt und meine Bewegungen flüssig werden. Kurz vor der Schwelle stoße ich das Paddel ins Wasser, ziehe fest am Schaft und denke endgültig an nichts mehr. Ich beobachte jetzt mich und was um mich herum passiert: Vor mir taucht die Kante auf und ich sehe den auslaufenden Schweif – das Boot läuft gut rein, kippt nach vorne und schießt abwärts. Um mich herum schlagen die Wellen über dem Boot zusammen.

Abflusstreffen

Hinter dem Schweif finde ich ein Kehrwasser und fahre hinein. Ich jubele kurz auf und verhalte mich daraufhin sogleich still, um meine Nachfolger nicht zu verunsichern. Ich warte und lauere ihnen mit der Kamera auf. Dann kommen sie. Es ist ein rauschendes Schauspiel, wie sie tollkühn am äußeren Betonpfeiler entlang ziehen und ins Unterwasser platschen. Im unteren Abfluss treffen wir uns wieder und sind froh über den glücklichen Ausgang der Aktion, die auch leicht hätte anders enden können.

Zu unserem perfekten Glück fehlt uns nun immer noch der passende Lagerplatz für die Nacht. Wir finden ihn bald an der Außenseite einer langgeschwungenen Flussbiegung. Es ist ein besonders schönes Exemplar von Lagerplatz.

Wiese und Wald

Am Ende einer weiten Auenwiese, die an ihren Rändern von dunklem Nadelwald eingerahmt ist, machen wir uns heute Abend breit. Genau genommen, handelt es sich sogar um eine Insel, denn außen am Rande der Wiese, wo der Wald beginnt, verläuft ein schmaler sumpfiger Nebenlauf des Bobers. Das Gras zu unseren Füßen ist makellos grün, und trotz des ausklingenden Sommers ist kein welker Grashalm zu entdecken. Dies ist ein Anzeichen, das wir in diesem Augenblick noch nicht zu deuten wissen.

Üble Spezies

Allmählich beginnt es uns aber zu dämmern, dass die Wiese vor kurzem noch unter Wasser gestanden haben muss und das Hochwasser diesen saftigen Untergrund in eine Brutstätte verwandelt hat. Das ist der ideale Entstehungs- und Lebensraum für unzählige Mücken, die uns jetzt hinterrücks beim Lageraufbau attackieren. Es handelt sich wieder um jene üble Spezies der Riesenmücken, die uns schon gestern im Wald so sehr zugesetzt und an den Rand der Raserei getrieben hatten.

Mückenschutzmaßnahmen

Das ist für uns Grund genug, noch einmal ins Wasser zu springen und den Schweiß des Tages abzuspülen. Für kurze Zeit sind wir dadurch quasi geruchlos für Mücken. Das bringt uns einen Moment Ruhe vor den Blutsaugern, die wir zur ausgiebigen Behandlung mit einem bewährten Mückenschutzmittel und zum Entfachen eines kleinen Feuers nutzen. Mit diesen Maßnahmen können wir die Mückenschwärme für den weiteren Abend so leidlich auf Abstand halten.

XXL-Nachtisch

Zum Abendessen gibt es wieder Gegrilltes vom Feuer, wofür René seine Würstchen eingepackt hatte, die wir uns nun herunterquälen. Dementsprechend begeistert sind wir, als es zum Nachtisch noch Weingummi aus der XXL-Tüte gibt. Überhaupt haben wir Grund zur Freude, denn wir haben heute die erste größere Stadt auf unserer Tour passiert, womit unsere Absicht, in dieser Woche die Oder zu erreichen, wieder in greifbare Nähe rückt. Wir studieren noch ein wenig die Karte und messen weitere Tagesetappen aus, wobei wir mögliche Schwierigkeiten diskutieren. Trotz aller Planung und Kalkulation zählt aber bald nur noch das tiefe Gefühl der Zufriedenheit, das sich in uns ausbreitet und glückselig stimmt.

Feuerschein und Mondlicht

Nachdem Mark und René die Segel streichen und sich ins Zelt verkriechen, sitze ich noch eine Weile am Feuer und genieße das bloße Dasein auf dieser idyllischen Auenwiese neben dem Fluss. Um mich herum regiert der Zauber von flackerndem Feuerschein und Mondlicht. Der Bober wirkt jetzt traumhaft und unwirklich, wie er in gezähmter Wald- und Wiesenmanier an unserem kleinen Lager vorbeifließt. Sein unbändiges Wesen hat er an diesem Abend abgelegt und gegen ein kitschig-romantisches Heimatbild eingetauscht, wie es sonst nur in biederen Wohnstuben über der Couch zu hängen pflegt.

Eine lange Nacht

Das verleitet mich dazu, mich nicht im Zelt zu betten, sondern den freien Blick über die Wiese aus der Strandmuschel zu wählen. Auf dem windigen Militärplatz letzte Nacht hatte das wunderbar funktioniert, aber heute Nacht erkennen sogleich die Mücken ihre Chance und lassen mich kaum Ruhe finden. So habe ich noch eine lange Nacht und kann erst einschlafen, als der Mond schon tief steht.

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